Mittelschwaebische Nachrichten
Was die Corona-Warn-App leisten kann – und was nicht
Das Programm galt international als Vorbild. Das Robert-Koch-Institut ist nach wie vor von ihr überzeugt. Doch Kritiker warnen, die App verliere den Anschluss – etwa weil sie neue Erkenntnisse nicht einarbeite
Berlin Sie war teuer, sie war umstritten – und jetzt halten sie viele auch noch für wirkungslos. Seit rund vier Monaten ist die Corona-Warn-App inzwischen verfügbar. Doch in der zweiten Infektionswelle gelingt es auch mit ihrer Hilfe nicht, den rasanten Anstieg der Fallzahlen zu bremsen. Als „beste Corona-App weltweit“hatte Kanzleramtschef Helge Braun sie noch bei ihrer Vorstellung gerühmt. Nun mehren sich die Stimmen, die sagen: Die Corona-WarnApp verliere den Anschluss.
So formuliert es Linus Neumann, einer der Sprecher des Hackervereins Chaos Computer Club. Er hatte zunächst das Konzept und die Umsetzung der App gelobt. Als eines von vielen Elementen in der Kontaktverfolgung sei sie besonders wichtig in „Situationen, in denen Fremde sich nah kommen und nicht in der Lage sind, sich später zu alarmieren“. Doch nun träten wesentliche Schwachstellen der Anwendung zutage. Neumanns Hauptkritikpunkt: Vieles von dem Wissen, das Forscher in den vergangenen Monaten über das Virus gesammelt haben, finde sich in der App noch nicht wieder. So sei inzwischen klar, dass das wichtigste Warnkriterium der App, sich länger als 15 Minuten in geringerem Abstand als 1,5 Meter zu einer infizierten Person aufgehalten zu haben, nicht ausreiche. Auch Treffen in größerem Abstand könnten riskant sein, wenn etwa mehrere Menschen über längere Zeit gemeinsam in einem geschlossenen Raum seien.
Erst am Montag war ein Update der App erschienen. Nutzer können nun Symptome erfassen, zudem funktioniert die App auch in einigen anderen europäischen Ländern. „Die internationale Abdeckung kommt pünktlich zum Ende der Ferien- und Reisezeit“, kommentiert Neumann das Update süffisant. Um die Gefahren von Zusammenkünften besser kontrollieren zu können, befürwortet er einen anderen Ansatz.
Seinem Vorschlag zufolge sollte die App auf Anforderung für jedes Treffen mehrerer Personen einen Code generieren. Ein Teilnehmer bekommt diesen auf sein Handy, alle anderen scannen ihn. Falls sich im Nachhinein herausstellt, dass die Teilnahme einer Person eine RisikoBegegnung war, könnten alle gewarnt werden. So wären auch Konferenzen, Busfahrten oder Restaurantbesuche von der App abgedeckt. Für die Nutzer würde dies jedoch Mehraufwand bedeuten, denn bisher läuft die App fast nur im Hintergrund.
Lange war darüber diskutiert worden, wie die Warn-App gestaltet werden soll. Vor allem Datenschützer hatten Bedenken. So entstand eine schlanke Anwendung, in der Nutzer letztlich kaum mehr als ihren Risikostatus betrachten und gegebenenfalls Testergebnisse eintragen können. Mithilfe einer BluetoothVerbindung erkennt das Programm selbstständig, welche Nutzer sich in der Nähe aufhalten und ob einer von ihnen möglicherweise Kontakt mit einem Infizierten hatte. Die gesammelten Daten werden dezentral auf den Geräten der Nutzer gespeichert und nur abgerufen und anonym übermittelt, wenn jemand ein Testergebnis einträgt. Rund jeder vierte Erwachsene in Deutschland hat die App heruntergeladen. Aber nur etwas mehr als die Hälfte der positiv getesteten Personen hat ihre Ergebnisse übermittelt. Dass dieser Anteil nicht höher ist, liege daran, dass die Kommunikationsstrategie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung „völlig versagt“habe, sagt die Linken-Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg.
So fürchteten Menschen etwa „grundlos Nachteile, wenn sie einen positiven Test hochladen“. Domscheit-Berg spricht von einem „Armutszeugnis für den Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen“, da viele bis heute ihre Testergebnisse nur analog mit drei bis vier Tagen Verspätung erhielten. Dennoch erkennt sie an, dass die App im internationalen Vergleich überdurchschnittlich häufig genutzt werde – auch aufgrund der „hohen Ansprüche an den Datenschutz“.
Am Datenschutz liege es auch, dass es keine genaueren Daten wie Zeit oder Ort bei möglichen Risikobegegnungen übermittelt werden können, erklärt das Robert-KochInstitut, in dessen Verantwortung die App liegt. Sprecher Robin Houben sagte unserer Redaktion, die App melde Risikokontakte äußerst umfangreich. Um Messfehlern entgegnen zu können, die etwa in Metallröhren wie Bus- oder Bahnkabinen auftreten könnten, würden „auch Entfernungsbereiche als Risikobegegnungen erfasst, die in einem störungsfreien Umfeld für eine etwas größere Distanz als die epidemiologisch relevante Zielgröße von zwei Metern sprechen würden“.
So könne die App Zusammenkünfte als Risikobegegnung einschätzen, bei denen sich mehrere Menschen mit einem Infizierten in einem geschlossenen Raum aufhielten – auch wenn die Abstände gewahrt wurden. Damit nehme man zwar in Kauf, dass zu viele Nutzer gewarnt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächliche Risikobegegnungen nicht erkannt werden, reduziere sich aber. Laut Houben sei das Team der Corona-Warn-App daran interessiert, „die App kontinuierlich zu verbessern“. Zu konkreten Neuerungen, wie etwa von IT-Experte Neumann vorgeschlagen, äußerte er sich jedoch nicht.