Mittelschwaebische Nachrichten
Kühner Visionär und Verhüllungskünstler
Indem Christo Gebäude und Landschaften dem Blick entzog, machte er sie sichtbar. Ein monumentales Zeichen setzte er 1995 mit dem Reichstag. Am Pfingstsonntag starb der Künstler in New York im Alter von 84 Jahren
Viele, sehr viele nannten ihn den Verpackungskünstler. Das aber traf die Sache nicht und stieß bei ihm selbst auch auf entschiedenen Widerspruch – wiewohl er in jungen Jahren durchaus kleinere alltägliche Dinge wie etwa Druckwerke oder ein Fahrrad mit Packpapier eingewickelt hatte.
Weit näher an seiner Kunst war da schon die Bezeichnung Verhüllungskünstler. Das ließ er gelten. Er wollte ja nicht kleinere alltägliche Dinge oder größere Bauwerke und Landschaften für den Postversand oder vor widrigen Einflüssen schützen, sondern er wollte sie ja in ihrer eigentlichen Gestalt dem Auge entziehen, sie verwandeln und verfremden – auf dass sie als etwas anderes, umgewertet Ästhetisiertes, Neues umso stärker ins betrachtende Bewusstsein gelangten.
So setzte er einmalige, monumentale und panoramenhafte Bedeutungszeichen. Für diese seine Art von Kunst gilt als Paradebeispiel, zumal in Deutschland, die schimmernde, silbrig glänzende Verhüllung des Berliner Reichstags 1995, den er – damals noch mit seiner Partnerin Jeanne-Claude – für Millionen von Pilgern verwandelt erlebbar und verwandelt sichtbar machte. Eine lange, gewiss problematische Geschichte mündete – temporär natürlich – in ein symbolhaft aufgeladenes, in ein überhöhtes Kunstwerk.
Aber auch die Bezeichnung des Verhüllungskünstlers greift noch zu kurz. Christo, dessen Tod am Pfingstsonntag in New York respektvoll und betroffen bekannt gegeben werden muss, verhüllte ja nicht nur. Sein Prinzip war nicht nur das bedeutungsvolle optische „Entziehen“, das „Verschwindenmachen“, das „Verbergen“– also in gewisser Weise genau das Gegenteil neu produzierenden Künste –, sondern tatsächlich auch die Neukonzeption von Stadt, Land, Fluss durch neue Installationen, neue Wege, neue – oft gigantische – Marken.
Ob 1976 der leuchtende „Running Fence“nördlich von San Francisco, ob 1983 die elf pink gleißenden „Surrounded Islands“in Florida – wunderbar vor allem in der Luftaufnahme –, ob 2005 die über 7500 „Gates“im Central Park von New York oder ob dann 2016 die begehbaren gelb flutenden „Floating Piers“im norditalienischen Iseosee, übrigens auch rund um die Privatinsel eines Waffenfabrikanten: Das alles war die Umsetzung eines Wunschtraums und zugleich die Verwirklichung kühnster Visionen im Sinne von Weltgestaltung. Zu Ende gedacht wäre Christo, der 84 Jahre alt wurde, der Mann gewesen, der die ganze Erde mittels Intervention zum – schützenswerten – Kunstwerk hätte machen können.
2016 am Iseosee war er jedenfalls in Europa auf dem Höhepunkt seiner Popularität angekommen – und schön war es zu sehen, wie er dort immer mal wieder vom hohen Deck Dampfers sein Werk mit wehender weißer Mähne betrachtete und das Lachen und Winken der Kunsttouristen genoss, die häufig lange in praller Sonne angestanden waren, um die leicht schaukelnden Nylon-Piers betreten zu dürfen – und dann barfuß über Wasser zu wandeln. Das war noch einmal ein Triumph für den 1935 als Christo Vladimiroff Javacheff geborenen Bulgaren, dem ob seiner Kunst weiß Gott viele Jahre lang Unverständnis und Unwillen entgegengeschlagen waren.
Und so zählte zu Christos Kunstaller Eingriffen, zu seinen öffentlichen Operationen auch die Durchsetzungskraft, die Hartnäckigkeit, die Bewältigung juristischer, ökologischer sowie finanzieller Widrigkeiten. Das war oft spannender, nervenaufreibender, mühsamer für ihn als die Konzeption und praktische ästhetische Bewältigung seiner Land Art. Christo war der Meinung: „Leicht kann jeder.“Die „Floating Piers“etwa waren 1977 nicht am Río de la Plata bei Buenos Aires zustande gekommen und nicht in den 1990er Jahren in der Bucht von Tokio – erst 2016 unter hohen Aufeines lagen am Iseosee. Bis heute und nun wohl auch für immer bleiben Christos langjährige Großprojekte „The Mastaba“(einige hunderttausend gestapelte Ölfässer in Abu Dhabi) sowie „Over the River“am Arkansas unrealisiert – Letzteres auch aus Protest gegen US-Präsident Trump.
Was aber, von Christos Büro bereits bestätigt, posthum noch verwirklicht werden wird, dies ist Christos zweiter Anlauf, den Arc de Triomphe de l’Étoile in Paris zu verhüllen – dieses nationale Monument, das als französischer Vaterlandsaltar für die Siege Napoleons und die französischen Opfer des Ersten Weltkriegs („Ewige Flamme“) über Jahrzehnte sakrosankt geblieben war. Christo war 1958 von Bulgarien nach Paris gegangen, hier hatte er die exakt am selben Tag geborene Jeanne-Claude Denat de Guillebon kennengelernt (13. Juni 1935), hier hatte er mit ihr in Künstlerpartnerschaft – bereits in New York lebend – nach neunjähriger „Überwindung von Widerstand“den Pont Neuf über der Seine verhüllt (1985). Nun wird Paris im Herbst 2021 also noch einmal und nach zweimaliger Verschiebung ein Christo-Projekt zeigen: 25 000 Quadratmeter recycelbarer, blausilberner Polypropylen-Kunststoff werden mit 7000 Metern roter Kordel den Arc de Triomphe umhüllen.
Was hatte dazu der Meister, der seine Projekte durch Entwurfszeichnungen und Grafik selbst finanzierte und dabei in siebenstellige Preiskategorien vordrang, erklärt? Er stellte die rhetorische Frage „Warum hat Claude Monet die Kathedrale von Rouen gemalt?“, um dann zu antworten: „Er wollte sie in seinem Stil neu interpretieren, so, wie er sie sah: blau, gelb … Und wir interpretieren eine menschengeschaffene Architektur neu, damit sie ein Kunstwerk wird.“