Mittelschwaebische Nachrichten
Auch von uns Kindern fiel eine Last ab
Meine Erinnerungen an den Mai 1945 beginnen im März und enden im April des Jahres. Am 4. März 1945, an einem Sonntagvormittag, als der von Hitler-Deutschland vom Zaun gebrochene Zweite Weltkrieg längst entschieden war, wurde Schwabmünchen von der US-Luftwaffe bombardiert. Zwar wurden zahlreiche Projektile vom starken Westwind in die Felder im Nordosten des Ortes abgetrieben, aber es waren immerhin über 60 Menschen zu Tode gekommen, von zahlreichen Verletzten nicht zu reden. Von der Eingangstreppe unseres Häuschens aus konnte die wie eine riesige Fackel brennende Kirchturmspitze der Pfarrkirche St. Michael gesehen werden. Drum versammelten sich bei uns Frauen und Kinder, und der Nachbarsfreund Hermann frohlockte: „Jetzt brauchen mir am Sonntag nimmer in d’Kirch.“Frau G. wies ihn zurecht: „Du Lausbua …“
Auch uns kam der Tod nahe: Der Ufa-Filmverleih war aus Berlin nach Schwabmünchen evakuiert worden und hatte seine Büroräume in der damaligen Hans-SchemmSchule, die als einzige am 4. März nicht zerstört worden war. Eine der Ufa-Angestellten, zu Hause in München, wohnte bei uns zur Untermiete und brachte sonntags einige Kolleginnen mit, da wir ein sogenanntes Pfründehäuschen gemietet und bis zum Angriff Platz hatten. Zwei dieser Kolleginnen kamen am 4. März ums Leben. Letztere war die Schwester der Schauspielerin Marianne Hoppe.
Im April 1945 verstarb der USPräsident Roosevelt, und ich als Neunjähriger, NS-indoktriniert, glaubte, wie hohe Nazis auch, dass der Krieg nun noch zu gewinnen sei, da die Kriegsgegner ihres Anführers beraubt wären … Doch wir Kinder konnten aus Gesprächen der Erwachsenen die besorgte Frage heraushören, ob wir beim bevorstehenden Kriegsende wohl von den Russen oder von den Amerikanern besetzt würden? Zwar wurden die Amis bevorzugt, doch von Befreiung war in unserer ländlichen Umgebung, in der die Nazis nicht viel hatten erben können, dennoch nicht die Rede. Aber selbstverständlich dienten die meisten Männer in der Wehrmacht, und ein „Blockwart“wachte darüber, dass alle Anordnungen des Regimes beachtet wurden.
Am 26. April abends ging es wie ein Lauffeuer durch Schwabmünchen: Nördlich des Bahnhofs, auf freiem Feld, war ein Nachschubzug der Wehrmacht gestrandet, angesichts der herannahenden Amerikaner – die Panzer, deren Motorengedröhn man schon hören konnte, suchten einen Übergang über die Wertach – von seiner Besatzung verlassen. Der halbe Ort machte sich auf zur Plünderung, auch unsere Mutter. Sie ergatterte einige Kartons Konservenfleisch, von denen sie allerdings die meisten dem Gespannbesitzer abgeben musste, der die Kartons ein Stück weit transportiert hatte.
Am Morgen machte ich mich mit meinem Nachbarsfreund Hermann, demselben, der sich die Messe sparen wollte, ebenfalls zum Zug auf. Das Nahrhafteste und Wertvollere war von den Schwabmünchnern schon „organisiert“worden, so setzten wir uns Luftwaffenstahlhelme auf und trollten uns mit je einer Tasche voller Mehl auf den Heimweg. Als wir schon in der Nähe unserer Straße waren, sahen wir aus Richtung Krankenhaus US-Soldaten mit vorgehaltener Waffe links und rechts am Straßenrand vorsichtig voranpirschen, gefolgt von einer Karawane Jeeps und Dodges mit kleinen Anhängern hintendran. Außer uns beiden und den Amis war niemand zu sehen. Blitzschnell entledigten wir uns der Stahlhelme in einen Vorgarten; die Soldaten beachteten uns Buben nicht. Als wir in unsere Seitenstraße einbogen, stand dort alles voller Trucks und Panzer, und die Amerikaner
machten Quartier. Der Krieg war aus, auch von uns Kindern fiel eine Last ab. Für die Erwachsenen ging die Sorge ums tägliche Überleben weiter, weitaus unspektakulärer als vor Kriegsund NS-Ende.
Die beiden „Frolleins“von der Ufa, die eine wohnte ja bei uns, erhielten nun Besuch von US-Soldaten. Diese kamen samt Gewehren von hinten über den Garten und brachten ihren Damen Schokolade und Nescafé mit. Viele Jahre später erhielt unsere Tante in München Besuch von einem jungen Mann, der nach seiner Mutter fragte. Das berichtete die Tante meiner Schwester mit der Bemerkung, sie hätte keine Ahnung gehabt, was der junge Mann gewollt habe. Da klärte meine Schwester die Tante auf: „Aber Tante T., du hast uns doch erzählt, du hättest dem Buben von der A., die damals bei uns gewohnt hat, in einem Münchner Kinderheim einen Platz verschafft.“Da fiel es der Tante wie Schuppen von den Augen und sie ärgerte sich sehr, aber es half alles nichts, der junge Mann kam nicht wieder. Allerdings hätten sowohl Tante als auch wir über den Verbleib von A. nichts sagen können, aber ein Foto von dem Säugling und seiner Mutter besitzen wir noch heute.