Mittelschwaebische Nachrichten
Erinnern an die Euthanasie
Morgen wird in Ursberg der Ereignisse während der NS-Zeit gedacht. Was heute daraus zu lernen ist
Morgen wird in einem Gedenkakt in Ursberg an die Geschehnisse in der Einrichtung während der NS-Zeit gedacht. Was man heute daraus lernen kann.
Ursberg Josef Koller ging mit dem Werkstoff Holz sehr geschickt um. Mit großer Freude arbeitete der mehrfach geistig behinderte Mann im Ringeisenwerk in Ursberg an der Herstellung von Holzfiguren, die bis in die 1950er Jahre ein Verkaufsschlager der Einrichtung waren. In den fünf Jahren während derer er die Anstaltsschule besucht hat, gelang es ihm für seine Bedürfnisse und die Erfordernisse seiner Arbeit ausreichend lesen und schreiben zu lernen. Während der Herrschaft der Nationalsozialisten galten Menschen wie Josef Koller jedoch als Belastung für die Volksgemeinschaft. Ihr Leben wurde als „unwert“kategorisiert und sollte ausgemerzt werden. Mit dem Euthanasieprogramm ermordeten die Nazis systematisch mehr als 200 000 Menschen, die entweder körperlich oder geistig behindert waren. Auch Kriegsversehrten, Krüppel, psychisch und unheilbar Kranken drohte vor dem Hintergrund dieser menschenverachtenden Ideologie der „Gnadentod“.
Anhand von Meldebögen, die von den Verantwortlichen in den Einrichtungen ausgefüllt werden sollten, wurde im Rahmen der geheim gehaltenen „Aktion T4“ab Herbst 1939 erfasst, wer für die „Vernichtung unwerten Lebens“infrage kommen sollte. Etwa 40 Gutachter entschieden anhand der Aktenlage über Tod oder Leben. Auch in Ursberg sollten damals die Meldebögen ausgefüllt werden. Obwohl der wahre Hintergrund dieser Erfassungen bewusst verschleiert wurde, sei den Schwestern in Ursberg klar gewesen, worauf die Aktion hinauszielte, sagt Schwester Canisia Maurer, die das Ursberger Archiv und die Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie betreut. Die Einrichtungen standen untereinander in regem Austausch. Die damalige Generaloberin des Klosters, Schwester Desideria, habe die Meldebögen zu sich genommen und die Ausfüllung möglichst lange hinausgezögert und die Anstaltsärztin, Dr. Isabe Gestering hat ihr Möglichstes gegeben, die Arbeit, die die betroffenen Menschen verrichteten, als kriegswichtig darzustellen. Nicht zuletzt um die Behinderten aus ihren sozialen Zusammenhängen zu reißen, um damit die Tötungen zu vereinfachen und zu verschleiern, wurden die Menschen aus privaten und kirchlichen Einrichtungen in staatliche Einrichtungen verlegt. Dort wurden sie entweder gezielt umgebracht oder durch systematische Unterernäh- rung getötet. Die Patienten erhielten eine sogenannte „Hungerkost“: kaum Kohlenhydrate, kein Fett, kein Fleisch. An den Mangelerscheinungen und den Folgeerkrankungen starb ein Großteil der Insassen. Im Totenschein stand dann meist eine ’natürliche’ Todesursache.
Josef Koller wurde am 31. August 1941 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee verlegt. Vom 5. April 1942 ist von ihm ein kurzer Brief erhalten: „Liebe Schwester Oberin, der Osterhase hat mir gut gemundet. Sage vielmals „Vergelts Gott“. Und den lieben Schwestern, Schwester Oberin frohes Ostern desgleichen der Schwester Demetria.“Mit ihren Grüßen und Päckchen, die die Schwestern ihren verlegten Klienten regelmäßig zukommen ließen, hielten sie den Kontakt und erfuhren so auch ein Stück weit etwas über deren weiteres Schicksal. Die Schwestern blieben zäh und es gelang ihnen auch in Verhandlungen, die sie nach Auskunft Schwester Canisias bis ins Innenministerium führten, 70 von den insgesamt 519 in andere Einrichtungen verleg- ten Menschen wieder zurück nach Ursberg zu holen. 379 wurden ermordet oder verhungerten. Josef Koller starb zwei Tage nach seinem 51. Geburtstag am 19. April 1945 in Kaufbeuren an Unterernährung.
Mit der zentralen Gedenkveranstaltung des Bayerischen Landtags am kommenden Freitag, 26. Januar, wird in Ursberg der Opfer des Euthanasieprogramms aber auch allen anderen Opfern des Nationalsozialismus gedacht. Landtagspräsidentin Barbara Stamm wird um 10 Uhr unter Anteilnahme der Öffentlichkeit einen Kranz am Denkmal im Klosterhof niederlegen. In dem anschließenden Gedenkakt für geladene Gäste im Ringeisensaal des Gymnasiums werden als Festredner der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel und die Vorsitzende des Landtags-Gesundheitsausschusses, Kathrin Sonnenholzner (SPD), erwartet. Grußworte sprechen Landtagspräsidentin Barbara Stamm, Innenminister Joachim Herrmann (CSU) und Karl Freller, Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten. In die Veranstaltung einbezogen werden auch Menschen mit Behinderung aus dem Dominikus-Ringeisen-Werk und Schüler des Ringeisen-Gymnasiums.
Derartige Veranstaltungen gegen das Vergessen seien sehr wichtig, sagt die Generaloberin der St. Josefskongregation, Schwester Katharina Wildenauer. Denn der Grundgedanke der Euthanasie, Leben in lebenswert und unwert einzuteilen, ist auch heute noch virulent. Der medizinische Fortschritt versetzt die Menschen vor allem im Bereich der Pränataldiagnostik in schwierige Entscheidungssituationen. Auch in Ursberg spürt man diesen gesellschaftlichen Wandel.
So sind zwar die Anfragezahlen für einen Platz in der Einrichtung gleichbleibend hoch, doch nimmt etwa die Zahl der Menschen mit Downsyndrom ab. „Es ist ein menschlicher Wesenszug, zu glauben, man könnte alle Lebensrisiken ausschließen“, sagt Wolfgang Tyrychter, Mitglied im Vorstand des Dominikus-Ringeisen-Werks. Die allermeisten Behinderungen entstünden aber erst nach der Geburt. „Damals hat man die Denke auf die Spitze getrieben“, sagt Tyrychter. Da wurde eine einfache KostenNutzen-Rechnung aufgemacht, wie viel ein Mensch für den Staat leisten kann und wie viel er die Gemeinschaft kostet. Wenn der Saldo negativ war, galt er als unwert. Es sei wichtig, auch heute noch an dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte zu erinnern. Die Erinnerung – wenn sie nicht zum bloßen Ritual verkommt – zeige, wie es gehen kann, wenn man nicht daran arbeite. „Nichts ist selbstverständlich“, betont Tyrychter. Die Erfahrungen der NS-Zeit haben aus Sicht Tyrychters das Grundgesetz geprägt und beeinflussen auch heute noch die Debatten über den Umgang mit dem medizinischen Fortschritt – zu Beginn des Lebens genauso wie am Ende. Selbst das Asylrecht fuße darauf.
Damit auch in Zukunft Leben nicht leichtfertig als unwert abqualifiziert werden kann, sei es wichtig, so Schwester Katharina, dass immer wieder darauf verwiesen wird, dass jedes Leben lebenswert ist, eine positive Einstellung zum Leben vermittelt und die Inklusion gelebt wird.