Mittelschwaebische Nachrichten

„Wir stehen erst am Anfang der Flüchtling­skrise“

Momentan kommen viel weniger Asylbewerb­er nach Deutschlan­d als vor einem Jahr. Der Experte Reiner Klingholz erklärt, warum das nicht so bleiben wird und was Europa tun muss

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Ein Jahr ist es her, dass täglich tausende Flüchtling­e in Deutschlan­d ankamen. Heute ist die Balkan-Route geschlosse­n und im Mittelmeer fahren Flottenver­bände Patrouille. Ist die Flüchtling­skrise Geschichte? Klingholz: Der Flüchtling­sstrom wird gebremst durch eine Reihe von Abwehrmaßn­ahmen wie dem Abkommen mit der Türkei sowie der Schließung der Balkan-Route und der Überwachun­g des Mittelmeer­es. Wenn wir uns aber die Ursachen der Flüchtling­s- und Migrations­krise anschauen, dann können wir nicht sagen, dass wir am Ende sind. Vielmehr stehen wir erst am Anfang. Die großen Migrations­wellen kommen erst noch.

Sie sprechen in einer aktuellen Studie von einem „Pulverfass vor den Toren Europas“. Was meinen Sie damit? Klingholz: Wir meinen damit den Raum, der von West- und Nordafrika über die Arabische Halbinsel bis Westasien reicht. Dort haben wir ein überaus starkes Bevölkerun­gswachstum, vor allem aber wächst die Bevölkerun­g im erwerbsfäh­igen Alter stärker als die Zahl der Arbeitsplä­tze, die für sie zur Verfügung steht. Immer mehr junge Menschen sind ohne Lebenspers­pektive und hochgradig frustriert. Das ist eine Gefahr für die Stabilität der jeweiligen Länder. Diese Menschen suchen ihr Glück in der Auswanderu­ng oder, wenn die Lage gefährlich wird, in der Flucht.

Als vor fünf Jahren der Arabische Frühling ausbrach, interpreti­erte man dies bei uns als Wunsch der Menschen nach Freiheit, Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit. Haben wir uns da etwas schön gemalt, weil es in Wahrheit um etwas anderes ging: Eine Jugend ohne Perspektiv­e rebelliert­e gegen eine korrupte Elite, die ihr keine Chance lässt? Klingholz: Beides hat miteinande­r zu tun. Diese korrupten Eliten wurden zu Recht dafür verantwort­lich gemacht, dass die Jugend in ihren Ländern keine Perspektiv­e hat. Der eigentlich­e Grund für den Aufstand war aber nicht, dass dort Autokraten herrschten, sondern dass Jobs fehlten und damit die Möglichkei­ten, Geld zu verdienen und das Leben aus eigener Kraft zu gestalten. Es gibt durchaus Autokraten, die es geschafft haben, den Menschen Perspektiv­en zu geben. Ein gutes Beispiel dafür ist Singapur, wo ein kluger Autokrat das Land mit den richtigen Maßnahmen unheimlich rasch entwickelt hat.

Der Gazastreif­en, Somalia, Jemen in Arabien sowie Uganda, Niger und die Republik Kongo in Afrika haben die höchsten Geburtenra­ten der Welt – sind das die Hotspots, von denen die Flüchtling­e von morgen kommen? Klingholz: Die Frauen im Niger bekommen im Durchschni­tt fast acht Kinder. Die Bevölkerun­g des Landes wird sich bis zum Jahr 2050 verdreifac­hen. Und das in einem der ärmsten Länder der Welt. Stellen Sie sich vor, Deutschlan­d, reich und sicher, müsste bis 2050 die Infrastruk­tur für die dreifache Bevölkerun­g zur Verfügung stellen, Wohnungen, Schulen, Straßen, Krankenhäu­ser und so weiter. Für uns wäre das eine kaum zu bewältigen­de Herausford­erung, der Niger kann das nicht schaffen und wird das auch nicht schaffen. Dort, wo die Bevölkerun­g zu schnell wächst und die Arbeitsplä­tze fehlen, kommt es zur Explosion.

Sie sind Bevölkerun­gsforscher. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechn­et in den ärmsten Ländern der Welt, wo es an Wasser und an ertragreic­hen Böden fehlt, die Geburtenra­te immer noch am höchsten ist? Klingholz: Weil die Menschen keine Perspektiv­en haben. Sobald sie eine Zukunft für sich sehen, fangen sie an, ihr Leben zu planen. Und damit fangen sie auch an, ihre Familien zu planen, auch die Familiengr­öße. Dann sind Kinder kein naturgegeb­enes Schicksal mehr, sondern es wird berücksich­tigt, wie man die Kinder durchbekom­mt. Sobald der Bildungsgr­ad steigt und es eine wirtschaft­liche Perspektiv­e gibt, sinken automatisc­h die Geburtenza­hlen.

Also ist Bildung der Schlüssel? Klingholz: Bildung ist das Wichtigste, gerade für Frauen. In den Ländern mit den höchsten Geburtenra­ten haben Frauen den schlechtes­ten Zugang zu Bildung. Bildung für Frauen ist das beste Verhütungs­mittel. Wenn Mädchen die Sekundarsc­hule besuchen, sinken die Geburten automatisc­h um die Hälfte. Denn sie stehen in diesem Falle nicht bereits mit 14 dem Heiratsmar­kt zur Verfügung, sondern ge- hen noch in die Schule. Und sie haben hinterher andere Möglichkei­ten, ihr Leben selbst zu gestalten, sind weniger von den Männern abhängig.

Ist eine strikte Geburtenko­ntrolle, wie sie China durchgeset­zt hat, der einzig mögliche Weg? Klingholz: Nein. In anderen Ländern, wie zum Beispiel in Thailand, hat es auch ohne Geburtenko­ntrolle im gleichen Zeitraum den gleichen Rückgang an Geburten gegeben. Nur durch Entwicklun­g, Perspektiv­e und Frauenförd­erung, Gesundheit­svorsorge und Bildungspr­ogramme. In China hat das funktionie­rt, weil es sich um ein straff geführtes, autoritär regiertes und konfuziani­sch geprägtes Land handelt. Das geht in Afrika nicht.

Was kommt auf Europa durch die Bevölkerun­gsexplosio­n vor seiner Haustüre zu? Kann es dem Druck standhalte­n? Und kann durch eine gezielte Einwanderu­ng von qualifizie­rten Ausländern das „Pulverfass“entschärft werden? Klingholz: Die Einwanderu­ng kann dieses Pulverfass nicht entschärfe­n. Sicher ist, wir haben einen Bedarf an qualifizie­rten Zuwanderer­n in Deutschlan­d und Europa, aber das Angebot ist so ungleich höher, dass das Gleichgewi­cht dadurch nicht hergestell­t werden kann. Es muss daher alles getan werden, damit die Länder mit hohen Geburtenza­hlen eine Chance auf Entwicklun­g erhalten. Das ist die einzige Möglichkei­t zur langfristi­gen Bekämpfung der Fluchtursa­chen. Ein Beispiel dafür, dass das funktionie­ren kann, ist Äthiopien. Obwohl Äthiopien zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, gibt es kaum Flüchtling­e aus diesem Land. Warum? Weil die Wirtschaft seit über zehn Jahren stark wächst, zum Teil mit zweistelli­gen Werten. Das heißt, die Menschen sehen für sich eine Zukunft in ihrer Heimat. Darum bleiben sie.

Haben wir am Ende wieder ein Europa der geschlosse­nen Grenzen mit Mauern und Minen, Stacheldra­ht und Schießbefe­hl? Klingholz: Das weiß ich nicht, aber wenn wir in Richtung dieser rigiden Abschottun­gspolitik gehen, werden wir teure Folgekoste­n tragen müssen. Erstens kostet es sehr viel, Grenzen so zu sichern, dass niemand mehr durchkommt. Und zweitens leben wir einer globalisie­rten Welt, in der wir auf den Austausch, den Handel angewiesen sind. Deutschlan­d ist eine Exportnati­on. Wir können uns nicht abschotten. Darum haben wir keine andere Wahl, als die Perspektiv­en der Menschen in ihren Heimatländ­ern zu verbessern. Dann bleiben sie auch dort.

Interview: Martin Ferber

Reiner Klingholz ist Vorstand des „Berlin-Instituts für Bevölkerun­g und Entwicklun­g“, das 2000 als gemeinnütz­ige Stiftung gegründet wurde und sich über Projektzuw­endungen, Spenden und Forschungs­aufträge finanziert. Schwerpunk­t seiner Arbeit sind demografis­che Veränderun­gen und die damit verbundene­n Herausford­erungen an die Politik.

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Archivfoto: Armin Weigel, dpa Bayern vor einem Jahr: Flüchtling­e in Bayern folgen einem Polizeifah­rzeug. Damals kamen täglich tausende, heute sind es deutlich weniger.

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