Mittelschwaebische Nachrichten

Wie krank sind unsere Kinder?

Mehr Allergien und psychische Auffälligk­eiten. Geringere Gesundheit­schancen für Hauptschül­er

- VON JOACHIM GÖRES

Hannover Hanna ist vier Jahre alt und ein lebhaftes Mädchen. Es kann bereits das Einmaleins, singt englische Lieder auswendig – die Erzieherin­nen im Kindergart­en wissen oft nicht, was sie mit ihm anfangen sollen, weil es für sein Alter bereits sehr viel kann. Den Eltern raten sie, beim Kinderarzt auf ein Rezept für einen Ergotherap­euten zu dringen. Ein Fall aus der Praxis von Gisbert Voigt, den der Kinderarzt aus Melle kürzlich auf einer Tagung der Landesvere­inigung für Gesundheit in Hannover vorstellte – aus seiner Sicht ein Beispiel für eine Fehlentwic­klung: „Das Mädchen ist clever und normal. Kinder werden schnell pathologis­iert, wenn man sie nicht so beschäftig­en kann, wie das in ihrem Alter üblich ist. Unsere Aufgabe ist es, solche Kinder vor überflüssi­gen Therapien zu schützen.“

Ulrich Kohns ist bis 2013 mehr als 30 Jahre Kinderarzt in Essen gewesen. Er beobachtet zum einen zunehmend überbesorg­te Eltern, die beim kleinsten Problem sofort zum Telefonhör­er greifen oder ohne Termin vorbeikomm­en, um aus Nichtigkei­ten einen Notfall zu machen. Gleichzeit­ig steige auch die Zahl der Eltern, die sich um nichts kümmern. „Zu den Vorsorgeun­tersuchung­en kommen weniger Eltern aus sozialen Randgruppe­n, die als bildungsfe­rn gelten. Das ist nichts Neues. Was zunimmt ist die emotionale Ferne. Da fragt mich die Mutter eines fünf Wochen alten Jungen, der mich angrinst: ‚Der lacht Sie ja an, kann der schon sehen?‘“Kohns: „Der Kontakt zu den Eltern ist entscheide­nd. Nur über Veränderun­gen bei den Eltern kann man etwas für die Kinder bewirken.“ Heranwachs­ende in Abteilunge­n der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie behandelt, so waren es vor zwei Jahren bereits 55 600 Fälle – gleichzeit­ig sank dabei die durchschni­ttliche Behandlung­szeit pro Fall von 126 auf 36 Tage. Heute werden Intelligen­zund Persönlich­keitsstöru­ngen bei Kindern seltener als früher diagnostiz­iert, während es bei Verhaltens­und emotionale­n Störungen sowie neurotisch­en Störungen einen deutlichen Anstieg gibt.

„Unser Anspruch ist nicht, das Kind gesund zu machen, sondern die Grundlage zu schaffen, dass eine ambulante Therapie aufgenomme­n werden kann“, sagt Kölch und ergänzt: „Dafür können Psychophar­maka notwendig sein.“Diese würden vor allem bei ADHS, Psychosen, bipolaren Störungen, Angstund Zwangsstör­ungen sowie Depression­en eingesetzt. Kölch, Vorstandsm­itglied im Verein „Achtung Kinderseel­e“(www.achtung-kinderseel­e.org), kritisiert die oft unzureiche­nde Betreuung, wenn Kinder und Jugendlich­e eine stationäre Einrichtun­g verlassen. Zudem müsste mehr Augenmerk auf besonders gefährdete Minderjähr­ige gelegt werden – Kinder mit Intelligen­zminderung, Heimkinder sowie Kinder psychisch kranker Eltern.

Nach verschiede­nen Untersuchu­ngen wächst in den letzten Jahren bei armen Kindern und Jugendlich­en in Deutschlan­d das Risiko für psychische Auffälligk­eiten. So treten ADHS und Essstörung­en in den sogenannte­n statusnied­rigen Gruppen mehr als doppelt so häufig auf wie bei Heranwachs­enden aus anderen Schichten. Dagegen erkranken sie nach einer Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlich­en des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI), für die 17 000 Minderjähr­ige untersucht worden sind, nur geringfügi­g häufiger an Asthma, Heuschnupf­en, Windpocken und Scharlach als bessergest­ellte Gleichaltr­ige. „Schüler der Hauptschul­e haben deutlich geringere Gesundheit­schancen als Gymnasiast­en“, sagt Thomas Lampert, beim RKI für die Gesundheit­sberichter­stattung zuständig.

Eltern, die Rat suchen, weil sich ihr Kind etwa komplett zurückzieh­t, raten Fachleute, Kontakt zu Erziehungs­beratungss­tellen, Vertrauens­lehrer oder Schulpsych­ologen aufzunehme­n. Das Programm „Mind Matters“zur Förderung der psychische­n Gesundheit in der Schule hat die Universitä­t Lüneburg ausgearbei­tet. (Näheres unter www.mindmatter­s-schule.de)

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Foto: imago Der Kontakt zu den Eltern ist entscheide­nd, wenn man Kindern helfen will, sagen Kinderärzt­e.

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