Für Boris Palmer könnte es eng werden
BadenWürttemberg 2022 wird in Tübingen ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Die Grünen könnten ihren Kandidaten mittels Urwahl bestimmen – und dem Amtsinhaber damit innerparteiliche Konkurrenz bescheren
Augsburg/Tübingen Für seine Partei war er seit jeher Versprechen und Fluch zugleich: Seit 2007 steht Boris Palmer an der Spitze der badenwürttembergischen Universitätsstadt Tübingen, war Aushängeschild für die Grünen, der Beweis, dass sich Ökologie und Realpolitik nicht ausschließen müssen. Doch zugleich steht kaum ein anderer Oberbürgermeister so häufig in den Schlagzeilen wie der 49-Jährige – und nicht immer sind die positiv: Mal geht es um verbale nächtliche Rangeleien mit einem Studenten, mal um arg pauschale Kritik an Flüchtlingen oder der von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) angeordneten Corona-Politik. Seine politischen Erfolge und sein hohes Ansehen in der Stadt waren wie ein Schutzschild – bis er den Fußballer Dennis Aogo im Internet rassistisch beleidigte. Die Grünen sahen rot. Seither läuft nicht nur ein Parteiausschluss-Verfahren gegen Palmer, schon am heutigen Mittwoch könnte auch das Ende seiner kommunalpolitischen Karriere eingeleitet werden. Denn der Stadtverband der Grünen in Tübingen will am Abend auf einer Mitgliederversammlung entscheiden, ob er seinen OB-Kandidaten für die Wahl im kommenden Jahr mit einer Urwahl bestimmt. Offiziell geht es dabei nur um das Verfahren an sich, tatsächlich werden aber Weichen für eine innerparteiliche Konkurrenz gestellt.
Für Palmer würde das bedeuten: Er ist zumindest nicht länger automatisch für eine dritte Amtszeit gesetzt. Der Stadtverband hat sogar explizit nach personellen Alternativen Ausschau gehalten, mindestens ein parteiinterner Gegenkandidat oder eine Gegenkandidatin soll sich laut Medienberichten bereits gefunden haben. Es ist zudem erneut ein Schritt der Entfremdung zwischen Palmer und seiner eigenen Partei. Chris Kühn, der den Wahlkreis Tübingen für die Grünen im Bundestag vertritt, erklärt zur Urwahl: „Das ist ein Verfahren mit der größten Legitimation und der einzige Weg, den Konflikt zu beenden. Deswegen unterstütze ich das.“Nach den Plänen des Stadtvorstands sollen sich nach einer Bewerbungsphase bis zum 28. Februar die Kandidaten im März auf einem Podium vorstellen. Im April soll dann eine Urwahl durch die 460 Mitglieder des Tübinger Stadtverbands darüber entscheiden, wer für die Grünen im Herbst 2022 für den OB-Posten in der Universitätsstadt antreten wird.
Für die Grünen in Baden-Württemberg ist es ein politisches Wagnis: Zuletzt hatte sie die Rathäuser in Stuttgart, Freiburg und Konstanz verloren. Für die Grünen aber, zumal dann, wenn sie in die Bundesregierung einziehen, ist es wichtig, auch im Kommunalen eine Stimme zu haben – nur dann werden sie zu der Volkspartei, die sie gerne wären. Palmer gilt als verwurzelt in der Stadt, hat viele Wählerinnen und Wähler gerade deshalb für sich gewinnen können, weil er als politisch unkonventionell gilt. Er hat ein gutes Gespür für die Nöte der Menschen – weniger für die Nöte der eigenen Parteifreunde. Inmitten der Pandemie hatte er mit dem „Tübinger Modell“schon früh Öffnungsschritte eingeleitet und sorgte mit seinen Ideen deutschlandweit für Interesse. Palmer wurde Dauergast in Talkshows. Ein begabter Rhetoriker ist er ohnehin. Doch bei den Grünen bröckelte sein Rückhalt zusehends. Sogar Ministerpräsident
Kretschmann, selbst eher pragmatisch, wenn es um grüne Ideologie geht, kam nach Palmers Entgleisung gegenüber Aogo zum Schluss: „Ich finde es auch eines Oberbürgermeisters unwürdig, dauernd mit Provokationen zu polarisieren.“
Boris Palmer selbst will sich vor der Entscheidung seiner Parteikollegen nicht öffentlich äußern, lehnt Interviewanfragen ab. Sollten die Grünen tatsächlich eine Urwahl abhalten und der amtierende Oberbürgermeister dann dort auch verdrängt werden, hätte er immer noch die Möglichkeit, als unabhängiger Kandidat bei der OB-Wahl im Herbst 2022 anzutreten. Vieles wird sicher auch davon abhängen, wie es im Parteiausschlussverfahren weitergeht. Sein Anwalt, der frühere Grünen-Fraktionschef Rezzo Schlauch, kritisierte jüngst, dass es auch fünf Monate nach dem Beschluss des Landesparteitags noch keinen Antrag und kein Verfahren gebe. Es sei „komplett unglaubwürdig“, wenn die Grünen erklärten, die Vorbereitungen für den Ausschlussantrag seien sehr aufwendig. „Es ist offenkundig, dass diese Verzögerung ausschließlich dazu dienen sollte, die Causa Boris Palmer aus dem von Mai bis September laufenden Bundestagswahlkampf herauszuhalten, und somit rein taktischer Natur ist.“Schlauch empfahl der Parteiführung, das Verfahren am besten fallen zu lassen. Doch dort fehlt es Palmer inzwischen an einem tragfähigen Netzwerk, zu unberechenbar
Noch immer ist nicht klar, ob ihn die Partei ausschließt
Grüne brauchen die Wurzeln auch im Kommunalen
ist er geworden für eine Partei, die womöglich bald auf Bundesebene Regierungsführung übernimmt.
Der Baden-Württemberger ist ein politischer Kopf durch und durch. Aber eben auch einer, der andere mitunter spüren lässt, dass er es besser weiß. Schon mit 29 Jahren, nach seinem Lehramtsstudium, schaffte er den Sprung in den Stuttgarter Landtag, wurde Fraktionsvize und Verkehrsexperte. 2006 eroberte er das Tübinger Rathaus für die Grünen. Immer wieder wurde er auch für höhere Ämter gehandelt. Diese Zeiten sind vorüber. Immer, wenn Palmer mit rebellischen Äußerungen von sich hören macht, kommt die Rede früher oder später auf dessen Vater. Helmut Palmer war in Baden-Württemberg als „Remstal-Rebell“so etwas wie eine Berühmtheit, legte sich immer wieder mit dem Staat an, er beleidigte Beamte, wurde handgreiflich, landete im Gefängnis, kandidierte dennoch immer wieder für politische Ämter. Auch er wusste zu provozieren: Sein erstes Buch hieß „Mein Kampf und Widerstand im Filbingerland“– die Worte „Mein Kampf“waren groß gedruckt. Boris Palmers Kommunikationsinstrument ist Facebook. Dort wird er von seinen Anhängern gefeiert und von seinen Gegnern aufs Heftigste kritisiert, scheut nie den Konflikt, egal ob nach links oder rechts.