„Die Zeiten sind extrem dunkel“
Interview Markus Gabriel ist ein Star der zeitgenössischen Philosophie. Er spricht über Moral in Corona-Zeiten, eine Krise für Jahrhunderte, die heutige Politik – und über die Konsequenzen der Vaterschaft für das Denken
Herr Gabriel, als Sie mit 29 Deutschlands jüngster Professor wurden und bald darauf mit „Warum es die Welt nicht gibt“einen Bestseller landeten, galten Sie als Wunderknabe der Philosophie. Wie geht man damit um? Markus Gabriel: Natürlich hat es mich sehr gefreut, dass ich bereits in sehr jungen Jahren akademisch erfolgreich war und es mir dann gelungen ist, die zentralen Gedanken meiner theoretischen Arbeit öffentlichkeitswirksam in den Diskurs einzuspeisen. Ich habe schon als Jugendlicher die Absicht verfolgt, früh einen Lehrstuhl zu erhalten, um mit der nötigen Unabhängigkeit an philosophischen Innovationen zu arbeiten. Auch dank herausragender Lehrer an den Universitäten in Heidelberg und in New York City, an denen ich studiert und geforscht habe, ließ sich das auch realisieren.
Aber die besondere Aufmerksamkeit hat auch dazu geführt, dass Sie bis heute öffentlich sehr persönlich kritisiert, als umstritten, als arrogant gelten… Gabriel: Jeder Mensch, der wegen relevanter Leistungen in der Öffentlichkeit sichtbar ist, wird leider auf die oder andere Weise beleidigt. Das musste ich bereits um 2013 herum im Zuge des Bestsellers lernen. Man gewöhnt sich daran, dass eine gewisse Sichtbarkeit sowie das Äußern klarer Thesen dazu führen, dass auf Argumente mit psychologisch erklärbarer Irrationalität reagiert wird. Das gehört zu den Verfallsformen der Öffentlichkeit. Das heute verbreitete Gerede über „umstrittene“Denker:innen ist, nebenbei gesagt, Unsinn, mit dem der mediale Betrieb Aufmerksamkeit erregt.
Ihr aktuellstes Buch heißt „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“. Wie finster sind die Zeiten denn? Gabriel: Meine Heimat, das Ahrtal – ich stamme aus Sinzig, das an der Mündung der Ahr in den Rhein liegt –, wurde kürzlich von einem Tsunami verwüstet, der weitgehend auf das Konto menschlicher Naturzerstörung geht. Wir leben im Zeitalter der planetaren Selbstausrottung der Menschheit, ungeahnter geopolitischer Herausforderungen und globaler Probleme – wie der auf unabsehbare Zeit laufenden Corona-Pandemie –, die durch brandgefährliche Politiker wie etwa Bolsonaro, Modi oder Xi Jinping, aber natürlich auch durch unsere eigene Unfähigkeit befeuert werden, uns ethisch vertretbar mit der Klimakatastrophe und anderen massiven Schieflagen eines immer noch weitgehend entfesselten Ausbeutungskapitalismus auseinanderzusetzen. Gleichzeitig findet moralischer Fortschritt, also ein erhöhtes Bewusstsein etwa für Themen menschlicher Diversität und die
Notwendigkeit von Tier- und Umweltschutz statt. Doch dieser ist wiederum mit identitätspolitischem Unsinn verbunden und bedarf weiterer Schübe der Aufklärung. Kurzum: Die Zeiten sind extrem dunkel.
Wie ist die moralische Corona-Bilanz? Gabriel: Die moralische Bilanz der Corona-Krise in Deutschland, ja in Europa ist ziemlich schlecht. Wir haben einerseits mehr als eine Million Tote zu beklagen und haben gleichzeitig unzähligen Menschen, vor allem Kindern, teils schwere Schäden durch mal halbherzige, mal zu langfristige Lockdowns zugefügt. Gleichzeitig wurde viel zu lange und zu unkoordiniert in unsere Grund- und damit in unser aller Menschenrechte eingegriffen – wir sind kurzum bisher am Virus massiv gescheitert. Zum Glück ist es andererseits gelungen, sehr effektive Impfstoffe zu entwickeln, über die leider miserabel kommuniziert wurde und wird. Man erinnere sich nur daran, dass noch vor wenigen Monaten der Vorwurf im Raum stand, dass es Impfdrängler gebe, während gleichzeitig der AstraZeneca-Impfstoff schlechtgeredet wurde… Dass sich zu viele Menschen nicht impfen lassen wollen, liegt auch an dem miserablen Zustand unserer öffentlichen Debatte, die viel zu wenig von Argumenten, sondern zu oft von emotional aufgeheizten Vorwürfen geprägt ist.
In Finanz- und Flüchtlings-, in Klimaund Corona-Krise: Es geht um universelle Werte. Die Gesellschaften aber sind gerade dadurch zunehmend gespalten. Wer soll da moralischen Fortschritt moderieren? Die Politik? Gabriel: Die Politik kann das ziemlich offensichtlich nicht, wie der Wahlkampf oder auch die CoronaPandemie beweisen. Es ist auch viel zu viel verlangt, unsere gewählten Volksvertreter:innen als moralischen Kompass zu betrachten. Die neue Aufklärung ist eine Angelegenheit des gesamten Souveräns, also aller Menschen. Jede:r von uns ist in derselben Weise, an seiner und ihrer Stelle in der Gesellschaft in der Pflicht, im Gespräch mit anderen daran zu arbeiten, dass die vielen Krisen, in denen wir stecken, nicht zu weiteren Katastrophen führen. Die Politik kann das nicht alleine, dafür ist sie insgesamt viel zu unwichtig für dasjenige, was auf unserem Planeten geschieht. Die Wirtschaft ist etwa viel wichtiger und sie muss umdenken und neue Konzepte entwickeln, die den Raubbau an Mensch und Natur überwinden.
Welche Rolle spielt die Moral in der Politik? Robert Habeck hat im letzten Buch den Grünen geraten, auf keinen Fall mehr mit der Erhabenheit der Moral in Debatten zu gehen. Es gebe keine höhere Wahrheit im politischen Prozess als die, die aus dem Prozess selbst entsteht. Sollen wir nun noch die jeweils besten Interessens-Moderierer wählen? Gabriel: Ich halte diese Position von Habeck für nicht richtig, weil ich in der Tat davon ausgehe, dass die moralischen Tatsachen, die Werte etwa, die aus der Menschenwürde folgen, nicht Gegenstand einer demokratischen Debatte, sondern ihre Grundlage sind. Wahrheit ist nicht immer verhandelbar, schon gar nicht in zentralen moralischen Fragen. Gleichwohl gibt es einen politischen Pluralismus, weil es für jedes ethische Problem meist mehrere institutionelle Lösungen gibt. Dass wir die gigantische Klimakrise bewältigen und anders leben müssen, steht fest, und hat erst einmal nichts mit parteipolitischen Details zu tun, jede Partei bietet andere Mittel an, um das Problem zu lösen, und das ist legitim. Eine Partei, die allerdings moralische Tatsachen bestreitet, arbeitet damit am Bösen. Politischer Wahlkampf sollte kein Wettstreit moralischer, sondern politischer Positionen sein. Wenn eine Partei dabei unmoralische Positionen bezieht, ist dies fatal und muss benannt werden.
Auch die AfD bezieht ja durchaus betont Wertepositionen. Wie lassen sich wirklich moralische von den bloß interessensgeleiteten Standpunkten unterscheiden? Ist „Moral“mitunter nicht nur eine Frage der Macht?
Gabriel: Die Durchsetzung von Wertvorstellungen ist immer eine Frage der Macht. Aber Macht muss dabei nicht böse oder unmoralisch sein, es kommt darauf an, ob man die richtigen Wertvorstellungen durchsetzen möchte, und das wird nicht durch Macht, sondern durch freies Denken entschieden. Um Machtfragen kritisch zu durchleuchten, ist es übrigens wichtig, den Fokus nicht immer nur auf die AfD zu richten, die ja bisher nirgends mitregiert, sondern sich zu fragen, was denn aus ethisch-philosophischer Sicht in den faktischen Regierungen schiefläuft – Stichwort Maskenskandal, moralische Schieflagen der Corona-Bekämpfung oder die Infrastrukturkrise in Deutschland.
Sie hatten das Thema menschlicher Diversität angesprochen. Wie sehen Sie die teils hitzig moralisierende Debatte? Gabriel: Das Abbilden menschlicher Vielfalt im Diskurs ist moralischer Fortschritt, es geschieht aber in Wahrheit kaum. Stattdessen findet ein lautstarkes digitales Geplapper über Diversität statt, das leider in den Sprachgebrauch der Qualitätsmedien abstrahlt. Das ist ein gefährlicher Prozess, dem sich professionelle Journalist:innen dringend aktiv widersetzen müssen. Natürlich müssen wir geistes- und sozialwissenschaftlich informiert über Diversität und Fragen sexueller Selbstbestimmung reden, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verbessern, aber dabei die vielen Formen von Diversität, wozu die Religionen, aber auch Altersgruppen gehören, berücksichtigen. Es wird viel zu wenig darüber geredet, wie massiv etwa Menschen in Deutschland benachteiligt werden, die noch nicht im Wahlalter sind, aber auch zu wenig über die Vielfalt der Religionen gesprochen – es gibt ja nicht nur den Monotheismus, sondern etwa auch Hindus in Deutschland.
Die christlichen Kirchen waren traditionell eine moralische Instanz. Nun stecken sie selbst in einer tiefen moralischen Krise. Braucht die moderne, vielfältige Gesellschaft sie überhaupt? Gabriel: Die Kirchen verhalten sich in der Tat alles andere als vorbildhaft in der komplexen Krisenlage unserer Zeit. Sie trauen sich nicht, die relevanten theologischen Fragen wie etwa die nach der Theodizee oder dem Guten und Bösen zu stellen. Sie sind kleinlaut, als ob sie um jedes Mitglied bangten, und ringen mit teils furchtbaren moralischen Missständen – ich meine natürlich vor allem den Umgang mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Wir bräuchten einen öffentlichen Diskurs über die metaphysischen und ethischen Themen, für die die Kirchen stehen. Man kann die Kirchen nicht von der Religion und damit von der Frage nach dem Verhältnis von Gott, Natur, Mensch und Freiheit abkoppeln. Solange die Kirchen sich nicht einmal trauen, öffentlich von Gott zu reden, werden sie an Zuspruch verlieren, denn sie sind ja nicht nur karitative Einrichtungen, sondern sollen der Ehre Gottes dienen.
Woher wird der Fortschritt kommen? Gabriel: Aus einer Neuen Aufklärung, die global von vielen Denker:innen wie Marina Garcés, Corine Pelluchon, Takahiro Nakajima ausgerufen wird. Die Neue Aufklärung fordert radikale transdisziplinäre Kooperation und einen Geist des Vertrauens, der Politik, Wirtschaft, die Wissenschaften – wozu die Geisteswissenschaften gehören –, Kultur und Zivilgesellschaft mobilisiert. Das Ziel ist es, eine neue Vision des Guten, des menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln. Dabei muss der naturwissenschaftlich-technologische Fortschritt umgehend an philosophisch-ethische Einsicht und Forschung gekoppelt werden.
Wie optimistisch sind Sie, dass die Neue Aufklärung gelingen kann? Gabriel: Die Neue Aufklärung wird siegen, das Gute setzt sich durch. Doch dieser Prozess kann und wird Jahrhunderte in Anspruch nehmen. Wir denken viel zu kurzfristig, auch in Fragen der Klimakrise. In unserer Lebenszeit werden wir die Klimakrise nicht lösen, sondern bestenfalls einen Weg finden, einige der schlimmsten möglichen Konsequenzen noch abzuwehren. In der Klimaethik ist etwa seit den Büchern des New Yorker Umweltphilosophen Dale Jamieson längst klar, dass es jetzt primär darum geht, uns der Katastrophe anzupassen, während wir das Beste tun müssen, anders zu leben. Wir werden in diesem Jahrhundert keine angemessene Harmonie mit der Natur finden, das dauert länger, dafür haben wir zu lange nur auf die technologische Unterwerfung der Natur in und außer uns gesetzt.
Und was droht uns, wenn uns der moralische Fortschritt nicht gelingt? Gabriel: Die vollkommene Selbstausrottung der Menschheit durch ihren eigenen naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt.
Inzwischen ist der Wunderknabe 41, verheiratet und hat zwei Töchter. Hat die Vaterschaft Ihr Denken verändert? Gabriel: Elternteil zu sein, hat mein Leben ganz und gar verändert. Wer mit Kindern lebt – sei es als Vater oder in welcher Rolle auch immer –, weiß aus direkter Anschauung im Alltag, dass Menschenwürde in der allgemein geteilten Menschlichkeit besteht. Kinder verdienen zu jedem Zeitpunkt – natürlich auch schon lange vor der Geburt – unsere moralische Achtung, sie nehmen uns in die Pflicht. Als Elternteil empfindet man diese alles entscheidende moralische Wahrheit, die die Grundlage aller Ethik ist, am eigenen Leib, man lebt damit, eine unendliche Verpflichtung eingegangen zu sein. Daraus lässt sich leicht ableiten, dass wir jedem Menschen sowie natürlich auch anderen nicht-menschlichen Lebensformen moralische Verpflichtungen gegenüber haben.
Markus Gabriel, 41, lehrt als Philo sophieProfessor in Bonn, ist Di rektor des Internationalen Zentrums für Philosophie und ein weltweit bekannter Vertreter des Neuen Rea lismus. Zuletzt erschien von ihm „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“(Ullstein, 368 S., 22 ¤).
Ohne moralischen Fortschritt droht die Selbstausrottung der Menschheit