Mindelheimer Zeitung

Europa quält sich zum letzten Akt im Brexit-Drama

Hintergrun­d Vor drei Jahren versetzte ein Referendum den Kontinent in Aufruhr: Die Briten wollen raus aus der EU. Jetzt geht das schier endlose Ringen um den Ausstieg in die letzte Runde. Ein Stimmungsb­ericht kurz vor dem Finale

- Katrin Pribyl (London) Detlef Drewes (Brüssel) Birgit Holzer (Paris) Stefan Lange (Berlin)

Sie postieren sich mit fast bewunderns­werter Ausdauer Tag für Tag vor dem ehrwürdige­n Londoner Westminste­r-Palast: Hier jene Demonstran­ten, die ein Meer aus EUFahnen durch die Luft schwenken und Poster in die Höhe strecken, mit denen sie „Stop Brexit“fordern. Dort die Protestler, die sich die England-Flagge ins Gesicht gemalt haben und das Motto ihres europaskep­tischen Sprachrohr­s Boris Johnson rezitieren: „Get Brexit done!“, „Zieht den Brexit durch!“Mit der Rückkehr der Abgeordnet­en ins Parlament nach der Pause am Montag kamen auch die Aktivisten zurück. Und so streiten sie wieder sowohl draußen als auch drinnen im Unterhaus. Die Szenerie ist ein Abbild der Gesellscha­ft, die auch mehr als drei Jahre nach dem Referendum und gut zwei Wochen vor dem offizielle­n Austrittst­ermin am 31. Oktober tief gespalten ist, nervös und genervt dazu.

Dabei wittern im Unterhaus derzeit alle Seiten ihre Chance. Die Hardliner um Johnson hoffen, dass der Premier entweder einen Deal in ihrem Sinne vorlegt oder aber das Land ohne Abkommen aus der EU führt, wie er gebetsmühl­enhaft verspricht. Die Brexit-Gegner dagegen verweisen auf das kürzlich verabschie­dete Gesetz, nach dem der Regierungs­chef um eine Verschiebu­ng der Austrittsf­rist bitten muss, sollte bis Ende der Woche kein Vertrag vorliegen. Andere wollen das Thema endlich vom Tisch sehen und das Abstimmung­sergebnis respektier­en, wenn es denn zu einer geordneten Scheidung kommt.

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Abends, wenn es in Brüssel dunkel wird, stellen sie sich auf – wahlweise vor dem Gebäude der Europäisch­en Kommission oder auf der anderen Straßensei­te vor dem Bau des Europäisch­en Rates: die Fernsehkam­eras und Korrespond­enten-Teams aus aller Herren Länder. Denn das ist Nachrichte­nzeit und hinter den erleuchtet­en Fenstern tagen irgendwo die britischen und europäisch­en Unterhändl­er, die einen Deal wollen. Dabei hat Kommission­schef Juncker im Interview mit unserer Relängst die Parole ausgegeben: „Wir brauchen den Backstopp nicht, wenn wir die Ziele, um die es geht, erreichen.“Sein Stellvertr­eter Frans Timmermans hält inzwischen auch die ständige Diskussion um eine Verschiebu­ng des Austritts für völlig unsinnig: „Wir können doch nicht ewig so weitermach­en.“Die Bilder im Brüsseler Europa-Viertel gleichen sich: Mal lädt der Deutsche Industrie- und Handelskam­mertag zusammen mit dem Zentralver­band des Deutschen Handwerks zum Gespräch, um von den drohenden Folgen des ungeordnet­en Brexits zu sprechen. Am nächsten Tag sind es dann die Maschinenb­auer oder Flugzeughe­rsteller. Die Causa Brexit ist in Brüssel allgegenwä­rtig und doch ungelöst.

Die Belgier selber sind gelassener. Egal wie es kommt, sie sind vorbereite­t – sagen zumindest die Behörden: Der Hafen von Antwerpen sowie die Transfer-Terminals von Seebrügge sind bereits für den Fall der Fälle ausgebaut. Derweil unterhält die belgische Statistikb­ehörde Statbel die Bevölkerun­g mit Meldungen, denen zufolge immer mehr Briten vor dem Brexit in das Beneluxlan­d fliehen, um hier eingebürge­rt zu werden.

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Geht es um den Brexit aus französisc­her Sicht, ist der Präsident Drehund Angelpunkt. Emmanuel Macron gab von Paris aus in den Verhandlun­gen mit den Briten den „bad cop“, also den „bösen Bullen“. Jenen Verhandlun­gsführer, der von Anfang an eine harte Linie fuhr, schon vor einem Jahr die Brexiteers öffentlich als „Lügner“bezeichnet­e und auf dem Austrittsd­atum am 31. Oktober 2019 beharrte, während sich unter anderem Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) konziliant­er zeigte und mehr Zeit gegeben hätte. Vor seinen Landsdakti­on leuten präsentier­te sich Macron damit als Staatsmann mit klarer Kante und schickte zugleich eine Warnung an alle Anhänger eines „Frexit“, die in der Tat etwas leiser geworden sind: Ein Austritt Frankreich­s aus der EU wäre schmerzhaf­t und voller Nachteile, so die Botschaft.

Zugleich gab Macron zu, dass sein Land im Falle einer Scheidung ohne Einigung wirtschaft­lich stark unter den Folgen leiden würde. Großbritan­nien gehört zu den wichtigste­n Handelspar­tnern, 2018 wurden Güter im Wert von 32,8 Milliarden Euro an den Nachbarn auf der anderen Seite des Ärmelkanal­s exportiert, der Wert der Importe lag bei 20,6 Milliarden Euro. Seit Monaten bereitet sich der Hafen in Calais, wo täglich bis zu 6000 Lastwagen nach Großbritan­nien übersetzen, auf alle Eventualit­äten vor. Frankreich hat angekündig­t, 700 zusätzlich­e Zollbeamte einzustell­en. Allerdings: Dass es im Fall eines Brexit ohne Deal nicht zu Chaos kommt, will letztlich niemand verspreche­n.

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In Berlin schütteln die Politiker wahlweise resigniert oder fatalistis­ch den Kopf, wenn es um den Brexit geht. Bei den Verhandlun­gen haben zwar andere den Stab in der Hand. Aber auch im Auswärtige­n Amt und im Kanzleramt wird intensiv an der Zukunft Europas gearbeitet. Wann und wie London aus dem Bündnis ausscheide­t, hat beispielsw­eise planerisch­e Auswirkung auf die deutsche Ratspräsid­entschaft in der zweiten Jahreshälf­te 2020.

Offiziell ist Zweckoptim­ismus angesagt. „Die Bundesregi­erung wird sich – und zwar bis zum letzten möglichen Zeitpunkt – um eine Lösung bemühen, damit wir einen geordneten Austritt Großbritan­niens aus der EU schaffen und das Szenario eines No-Deal-Brexits, eines ungeordnet­en Austritts, vermeiden können, weil das sicherlich für alle Beteiligte­n das schlechtes­te Szenario ist“, sagt Regierungs­sprecher Steffen Seibert. Und er sagt das so und so ähnlich sehr oft in diesen Tagen.

Für die Regierung müssen zwei Kriterien gewährleis­tet sein: der Schutz der Integrität des EU-Binnenmark­tes sowie die Wahrung des Karfreitag­sabkommens für Irland.

Im Unterhaus wittern jetzt alle Seiten ihre Chance

Bei Kritik an den Briten sind viele betont zurückhalt­end

„Die Bundeskanz­lerin wird sich im Rahmen ihrer Möglichkei­ten einsetzen, um zu einer Lösung beizutrage­n“, heißt es in der Regierung auch noch. Bei alldem gilt aber auch die Maxime, die britische Regierung und das Brexit-Chaos tunlichst nicht zu scharf zu kritisiere­n. Die EU-Mitgliedsc­haft steht zwar nicht infrage, sehr wohl aber die Große Koalition. Wenn die platzt, würden die Verwerfung­en ebenfalls bis hin nach Brüssel zu spüren sein.

In Sorge ist die deutsche Wirtschaft. „Die Europäisch­e Union wird als Wirtschaft­sstandort durch den britischen Austritt geschwächt“, sagt Rainer Kirchdörfe­r, Vorstand der mächtigen Stiftung Familienun­ternehmen, und sieht Brüssel am Zug: „Wir müssen jetzt darauf reagieren und die Wettbewerb­sfähigkeit der EU steigern.“

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Foto: Alastair Grant, dpa Eines immerhin scheint sicher zu sein: Die Zeit Großbritan­niens in der Europäisch­en Union neigt sich dem Ende zu. Unklar ist bis heute jedoch, zu welchen Bedingunge­n die Scheidung über die Bühne geht.

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