In die Köpfe der Killer
Roberto Saviano Nicolas’ Baby-Gang tötet weiter
Roberto Saviano: Die Lebenshungrigen
In Neapel tobt ein Krieg, von dem der normale Tourist in der Regel nicht viel bemerkt. Die Soldaten liegen nicht in Schützengräben und tragen keine Uniform, sie sind minderjährig, düsen auf Motorrollern und in Markenklamotten durch die Stadt und schrecken nicht vor einem Mord zurück. Um diese Baby-Mafiosi dreht sich auch Roberto Savianos „Die Lebenshungrigen“. Es ist die Fortsetzung des Buches „Der Clan der Kinder“, mit dem der Mafia-Kritiker 2018 für Aufsehen sorgte und dessen Plot inzwischen sogar verfilmt wurde. Auch wenn das Schockmoment „mordende Minderjährige“in Teil 2 nicht mehr ganz so groß ist, so lässt einen das Buch dennoch frösteln – erst recht, wenn man Savianos Worten glaubt, dass die Realität noch schlimmer sei, als von ihm beschrieben.
Das ist schier unvorstellbar, aber wohl wahr. Saviano ist ein angesehener Mafia-Kritiker, dem die Clans nach zahlreichen Publikationen über mafiöse Machenschaften nach dem Leben trachten und der seit 2006 unter Polizeischutz lebt. Er kann nun zwar nicht mehr in Neapels Straßen recherchieren, doch nach eigenen Angaben stecken ihm Anwälte Details aus der Szene zu. So fühlt er sich näher dran als früher, sagte er jüngst in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Mit seinen Geschichten will er Licht ins Dunkel dieser Schattenwelt bringen – dazu bedient er sich auch des Mediums Film und Fernsehserie.
In seinem neuen Roman schickt Saviano den Leser also wieder in die Köpfe der Killer. Zentrale Figur in „Die Lebenshungrigen“ist erneut Gang-Chef Nicolas, um dessen Aufstieg es schon in „Der Clan der Kinder“ging, und der nun seine Macht, sein Revier und seinen Einfluss ausbauen möchte. Saviano beschreibt ihn und die anderen Jugendlichen der Paranza-Gang nicht als Monster, sondern als fast normale Jungen, die sich für Turnschuhe und Mädchen interessieren, aber für Geld und Anerkennung eben über Leichen gehen. Nicolas wirkt eher wie ein Manager mit Sinn für Macht und Markt als wie ein eiskalter Killer. Da wird taktiert, liquidiert, umsortiert. Und doch geht es mitunter derbe zu: „Ich fick die Angst, die geht mir am Arsch vorbei, das Einzige, was zählt, ist Kohle machen“, bringt es etwa einer der Nachwuchs-Mafiosi auf den Punkt.
Was sich da in den neapolitanischen Gassen abspielt, ist eine Art Raubtierkapitalismus mit anderen Mitteln. Dem stehen sogar die alten Bosse ratlos gegenüber. Wie mit den angst- wie skrupellosen Bambini umgehen, die das Geschäft bedrohen? Töten kommt jedenfalls nicht infrage, denn ein Clan-Boss fasst es so zusammen: „Wer Kinder abmurkst, ist praktisch schon tot, auch für die anderen Familien, die Neapolitaner, die Kalabresen, die Sizilianer. Das bedeutet, dass wir ein Nichts sind, dass wir Kindern keine Angst machen können, aber auch zu blöd sind, sie für uns arbeiten zu lassen. Schießen wir auf Kinder, schießen die anderen auf uns.“Doch unter Welpen gibt es offenbar keinen Welpenschutz, und so ist Nicolas bald in Gefahr.
„Die Lebenshungrigen“ist nicht nur ein Psychogram einer neuen Generation Mafiosi. Es ist gleichsam Kapitalismuskritik und Spiegelbild für den Werteverfall einer Gesellschaft. Man merkt dem Buch an, wie viel Herzblut drinsteckt, dass Saviano damit Missstände aufzeichnen und anprangern möchte. Er zeigt, wie hilflos Eltern sein können, wenn die Mafia die Tentakel nach ihren Kindern ausstreckt, wie alternativlos die Situation für arme Familien sein kann. Saviano jongliert zuweilen mit Erzählsträngen und Gang-Namen, was irgendwann verwirrend ist, vor allem für die, die Teil 1 nicht kennen. Nichtsdestotrotz: spannend, aufrüttelnd, beängstigend. Lea Thies