Verstanden?
Bildung Nach der Debatte um das angeblich zu schwere Mathe-Abi wird über eine grundsätzliche Frage diskutiert: Haben Schüler immer größere Probleme, Texte zu begreifen? Was Experten sagen
Augsburg Die Frage, die da nun im Raum steht, ist eine ganz grundsätzliche. Es ist eine Frage, in der es um Sätze geht, um Wörter, Buchstaben. Und darum, dass diese Sätze, ihr Inhalt, ihr Sinn, manchen Schülern offenbar massive Probleme bereiten – und zwar nicht nur im Schulfach Deutsch. Nach dem angeblich zu schweren Mathe-Abi wurde hitzig darüber debattiert, ob die Aufgaben zu kompliziert formuliert waren. Und die Frage, die daraus resultiert und die nicht unbedingt etwas mit Stochastik oder Geometrie zu tun hat, ist: Haben Schüler immer größere Probleme, Texte zu verstehen?
Das Textverständnis der Jugendlichen nehme in der Tat ab, sagt eine Gymnasiallehrerin aus dem Landkreis Günzburg. „Es ist oft so, dass sie einfach nicht verstehen, was sie da lesen“, sagt die junge Frau, die Deutsch und Geschichte unterrichtet. „Schüler in der Mittelstufe brauchen 15 Minuten, um aus zehn Sätzen herauszufiltern, um was es eigentlich geht.“Ihren Namen will die Pädagogin lieber nicht nennen. Das ganze Thema ist derzeit ein wenig heikel.
Dass es nicht gerade gut ums Textverständnis bestellt ist, zeige auch der Jahrgangsstufentest im Fach Deutsch, der in Bayern jedes Jahr Anfang der sechsten Klasse durchgeführt wird. „Beim Textverständnis schneiden die Schüler dabei am schlechtesten ab“, erzählt die Gymnasiallehrerin. Rechtschreibung und Grammatik seien auch nicht gerade berauschend, aber immer noch besser, ergänzt sie. Auch ältere Kollegen, die den Job seit mehr als 20 Jahren machen, hätten ihr gegenüber schon oft gesagt, dass sich die Fähigkeiten der Schüler, Texte zu verstehen, immer weiter verschlechtert hätten.
Hinzu kommt, dass den Schülern oft Wörter oder bestimmte Wendungen nicht geläufig sind. Eine Gymnasiallehrerin aus dem Großraum Augsburg, die ebenfalls nicht namentlich genannt werden möchte, erzählt ein Beispiel: In einer Prüfung waren mehrere Schüler der Oberstufe mit der Wendung „ein Schiff läuft aus“schlicht und ergreifend überfordert. Sie wussten nicht, dass es darum geht, dass es den Hafen verlässt – sondern dachten, dass etwas aus dem Schiff herausläuft.
Der Grundstein für das Verstehen von Texten wird in der Grundschule gelegt. Und wie es um die sprachlichen Kompetenzen der Kinder steht, wird regelmäßig in großen Untersuchungen ausgewertet. Die IGLU-Studie – kurz für Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung – vergleicht die Lesekompetenzen von Grundschulkindern. Das Ergebnis von IGLU 2016: Fast 20 Prozent der Viertklässler haben Probleme beim Lesen. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland was das Leseverständnis angeht unter dem EU-Durchschnitt.
Die Studie zeigt übrigens auch, dass das Elternhaus eine große Rolle spielt. Denn Kinder, die aus Haushalten stammten, in denen es mehr als 100 Bücher gibt, schnitten generell besser ab. Ist die Erklärung so simpel? Lesen die Kinder einfach zu wenig, wenn sie nicht von literaturaffinen Eltern dazu angeregt werden? Und liegt im regelmäßigen Lesen der Schlüssel für das Verstehen von Texten?
Pauschalisieren dürfe man das nicht, sagt Professor Andreas Mayer, Inhaber des Lehrstuhls für Sprachheilpädagogik an der Universität München, an dem Lehrer ausgebildet werden, die sich um Kinder mit sprachlichen Schwierigkeiten kümmern. Es gebe Schüler, sagt Mayer, die könnten so viel lesen wie sie wollten und ihr Textverständnis würde dennoch nicht besser werden. Das betreffe etwa Kinder mit einer Lese-Rechtschreibschwäche. Aber abgehen davon sei es tatsächlich so, dass Kinder, die viel lesen, Texte auch besser verstehen können. „Sie werden durch das Lesen mit sprachlich komplexen Strukturen konfrontiert, etwa mit Relativsätzen oder Passivkonstruktionen. Und sie lernen, in Situationen, wo sie etwas nicht verstehen, eigene Strategien anzuwenden und sich den Sinn zu erschließen.“Enorm wichtig sei auch das Vorlesen bei Kleinkindern. „Diese Methode wirkt sich sehr positiv auf die Sprachentwicklung aus. Die Kinder lernen so neue Wörter und grammatische Strukturen. Sie entwickeln ihre lexikalischen Fähigkeiten weiter.“
Auch Hans-Stefan Siller, Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Mathematik an der Universität Würzburg, hat sich in letzter Zeit viel mit dem Thema Textverständnis beschäftigt. Die Entscheidung des bayerischen Kultusministeriums, den Notenschlüssel des Mathematik-Abis nicht anzupassen, hält er für klug. Man mache sich sonst erpressbar, meint er. Er sagt auch: Dass mehrere Schüler Probleme hatten, habe vor allem an den Aufgabenstellungen gelegen. „Sie mussten etwas längere Texte lesen und begreifen, welche Vorgehensweise daraus abgeleitet werden sollte. Das ist für viele Schüler offenbar noch ungewohnt und daher möglicherweise schwierig.“Vor zehn Jahren habe die Kompetenzorientierung, die auf Verständnisfragen setzt, in den Schulen Einzug gehalten. Er gehe davon aus, dass das auch unterrichtet werde, sagt Siller und fügt hinzu: „Aber Schule ist wie ein Tanker auf See, der sich nur langsam manövrieren lässt. Und insofern kann es schon sein, dass das einfach noch Zeit braucht, bis sich das setzt.“
Deutschland liegt unter dem EU-Durchschnitt