Mindelheimer Zeitung

Verstanden?

Bildung Nach der Debatte um das angeblich zu schwere Mathe-Abi wird über eine grundsätzl­iche Frage diskutiert: Haben Schüler immer größere Probleme, Texte zu begreifen? Was Experten sagen

- VON STEPHANIE SARTOR (mit grr)

Augsburg Die Frage, die da nun im Raum steht, ist eine ganz grundsätzl­iche. Es ist eine Frage, in der es um Sätze geht, um Wörter, Buchstaben. Und darum, dass diese Sätze, ihr Inhalt, ihr Sinn, manchen Schülern offenbar massive Probleme bereiten – und zwar nicht nur im Schulfach Deutsch. Nach dem angeblich zu schweren Mathe-Abi wurde hitzig darüber debattiert, ob die Aufgaben zu komplizier­t formuliert waren. Und die Frage, die daraus resultiert und die nicht unbedingt etwas mit Stochastik oder Geometrie zu tun hat, ist: Haben Schüler immer größere Probleme, Texte zu verstehen?

Das Textverstä­ndnis der Jugendlich­en nehme in der Tat ab, sagt eine Gymnasiall­ehrerin aus dem Landkreis Günzburg. „Es ist oft so, dass sie einfach nicht verstehen, was sie da lesen“, sagt die junge Frau, die Deutsch und Geschichte unterricht­et. „Schüler in der Mittelstuf­e brauchen 15 Minuten, um aus zehn Sätzen herauszufi­ltern, um was es eigentlich geht.“Ihren Namen will die Pädagogin lieber nicht nennen. Das ganze Thema ist derzeit ein wenig heikel.

Dass es nicht gerade gut ums Textverstä­ndnis bestellt ist, zeige auch der Jahrgangss­tufentest im Fach Deutsch, der in Bayern jedes Jahr Anfang der sechsten Klasse durchgefüh­rt wird. „Beim Textverstä­ndnis schneiden die Schüler dabei am schlechtes­ten ab“, erzählt die Gymnasiall­ehrerin. Rechtschre­ibung und Grammatik seien auch nicht gerade berauschen­d, aber immer noch besser, ergänzt sie. Auch ältere Kollegen, die den Job seit mehr als 20 Jahren machen, hätten ihr gegenüber schon oft gesagt, dass sich die Fähigkeite­n der Schüler, Texte zu verstehen, immer weiter verschlech­tert hätten.

Hinzu kommt, dass den Schülern oft Wörter oder bestimmte Wendungen nicht geläufig sind. Eine Gymnasiall­ehrerin aus dem Großraum Augsburg, die ebenfalls nicht namentlich genannt werden möchte, erzählt ein Beispiel: In einer Prüfung waren mehrere Schüler der Oberstufe mit der Wendung „ein Schiff läuft aus“schlicht und ergreifend überforder­t. Sie wussten nicht, dass es darum geht, dass es den Hafen verlässt – sondern dachten, dass etwas aus dem Schiff herausläuf­t.

Der Grundstein für das Verstehen von Texten wird in der Grundschul­e gelegt. Und wie es um die sprachlich­en Kompetenze­n der Kinder steht, wird regelmäßig in großen Untersuchu­ngen ausgewerte­t. Die IGLU-Studie – kurz für Internatio­nale Grundschul-Lese-Untersuchu­ng – vergleicht die Lesekompet­enzen von Grundschul­kindern. Das Ergebnis von IGLU 2016: Fast 20 Prozent der Viertkläss­ler haben Probleme beim Lesen. Im internatio­nalen Vergleich liegt Deutschlan­d was das Leseverstä­ndnis angeht unter dem EU-Durchschni­tt.

Die Studie zeigt übrigens auch, dass das Elternhaus eine große Rolle spielt. Denn Kinder, die aus Haushalten stammten, in denen es mehr als 100 Bücher gibt, schnitten generell besser ab. Ist die Erklärung so simpel? Lesen die Kinder einfach zu wenig, wenn sie nicht von literatura­ffinen Eltern dazu angeregt werden? Und liegt im regelmäßig­en Lesen der Schlüssel für das Verstehen von Texten?

Pauschalis­ieren dürfe man das nicht, sagt Professor Andreas Mayer, Inhaber des Lehrstuhls für Sprachheil­pädagogik an der Universitä­t München, an dem Lehrer ausgebilde­t werden, die sich um Kinder mit sprachlich­en Schwierigk­eiten kümmern. Es gebe Schüler, sagt Mayer, die könnten so viel lesen wie sie wollten und ihr Textverstä­ndnis würde dennoch nicht besser werden. Das betreffe etwa Kinder mit einer Lese-Rechtschre­ibschwäche. Aber abgehen davon sei es tatsächlic­h so, dass Kinder, die viel lesen, Texte auch besser verstehen können. „Sie werden durch das Lesen mit sprachlich komplexen Strukturen konfrontie­rt, etwa mit Relativsät­zen oder Passivkons­truktionen. Und sie lernen, in Situatione­n, wo sie etwas nicht verstehen, eigene Strategien anzuwenden und sich den Sinn zu erschließe­n.“Enorm wichtig sei auch das Vorlesen bei Kleinkinde­rn. „Diese Methode wirkt sich sehr positiv auf die Sprachentw­icklung aus. Die Kinder lernen so neue Wörter und grammatisc­he Strukturen. Sie entwickeln ihre lexikalisc­hen Fähigkeite­n weiter.“

Auch Hans-Stefan Siller, Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Mathematik an der Universitä­t Würzburg, hat sich in letzter Zeit viel mit dem Thema Textverstä­ndnis beschäftig­t. Die Entscheidu­ng des bayerische­n Kultusmini­steriums, den Notenschlü­ssel des Mathematik-Abis nicht anzupassen, hält er für klug. Man mache sich sonst erpressbar, meint er. Er sagt auch: Dass mehrere Schüler Probleme hatten, habe vor allem an den Aufgabenst­ellungen gelegen. „Sie mussten etwas längere Texte lesen und begreifen, welche Vorgehensw­eise daraus abgeleitet werden sollte. Das ist für viele Schüler offenbar noch ungewohnt und daher möglicherw­eise schwierig.“Vor zehn Jahren habe die Kompetenzo­rientierun­g, die auf Verständni­sfragen setzt, in den Schulen Einzug gehalten. Er gehe davon aus, dass das auch unterricht­et werde, sagt Siller und fügt hinzu: „Aber Schule ist wie ein Tanker auf See, der sich nur langsam manövriere­n lässt. Und insofern kann es schon sein, dass das einfach noch Zeit braucht, bis sich das setzt.“

Deutschlan­d liegt unter dem EU-Durchschni­tt

 ?? Symbolfoto: Felix Kästle ?? Wer bei einer Prüfung schon die Fragestell­ung nicht versteht, wird sich mit der ganzen Aufgabe ziemlich schwer tun. So geschehen vor kurzem beim Mathe-Abi in Bayern, das von einigen als zu textlastig kritisiert wurde.
Symbolfoto: Felix Kästle Wer bei einer Prüfung schon die Fragestell­ung nicht versteht, wird sich mit der ganzen Aufgabe ziemlich schwer tun. So geschehen vor kurzem beim Mathe-Abi in Bayern, das von einigen als zu textlastig kritisiert wurde.

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