Heimfahrt
Wie vertraut das als Kind doch war: der Krämerladen im Ort, der Bäcker, der Baum, unter dem man Verstecken spielte. Irgendwann ging man dann weg. Und kam nur noch zu Besuch. Nun kehrt unser Autor zurück und schaut sie sich noch mal genau an – die Orte sei
Vor meinem Vaterhaus stand keine Linde. Dafür aber, wenn die Erinnerung nicht trügt, eine kleine, ziemlich schöne Hängebirke. Schön vor allem deshalb, weil wir uns als Kinder hinter den beinahe bis zum Boden reichenden Ästen verstecken konnten, und darunter war es fast wie in einem Indianerzelt. Also, wie man sich das halt so vorstellt als Kind.
An diesem grauen Wintertag sind hingegen keine Indianer in Sicht, sie könnten sich auch nirgends verstecken. Kein Baum, stattdessen an der Fassade rote Rollladenkästen.
Ich war über zwanzig Jahre nicht mehr hier, in der Straße, im seinerzeit verkauften Haus, ich atme komisch, gehe in die Hofeinfahrt, zum Eingang, drücke die Klingel.
Reisen in die Vergangenheit sind eine merkwürdige Sache. Noch merkwürdiger ist allerdings, dass man sie viel zu selten unternimmt. Ständig wird von der Zukunft geredet, diese geplant und sich ausgemalt, reisen Menschen in der Fiktion, in Büchern und im Film dorthin, um dann irgendetwas Unerhörtes zu entdecken, fremde Welten. Aber die Vergangenheit? Die Wurzeln? Eigene Welten? Vielleicht ja sogar: Heimat? Irgendwie in dem Maße unerheblich, als dass sie mittlerweile überall und in aller Munde ist. Es gibt Heimatminister, Heimatsound, Heimatläden, Leberkäse selbst in Berlin-Neukölln, damit sich die Zugezogenen – eben – heimisch fühlen. Man könnte also fast sagen, Heimat reist den Heimatlosen hinterher, weil sie es in umgekehrter Richtung nicht tun, nicht dazu kommen, weiter müssen, immer weiter. Heimat ist damit aber, je mehr sie uns abhandenzukommen scheint, allgegenwärtig wie ein Rezept von regional geernteten Steckrüben. Und somit nirgends.
Dabei ist es im Grunde ganz einfach. Auf die Autobahn, man braucht gar kein Navi, weil man, wie die Lachse, wohl immer den Weg zurückfindet zu den Ursprüngen. Blinker setzen, dann über Land, wo sich die Verkehrsführung doch ein wenig geändert und die Mode der Kreisverkehre bemerkbar gemacht hat, dann links, dann noch mal, dann rechts, dann noch mal links – und dann steht man da. Und atmet wie gesagt mit einem Mal komisch.
Es ist ja nicht so, dass ich in der Marktgemeinde, die da irgendwo zwischen Augsburg und Ulm im Nebel an der Donau liegt und in der ich aufgewachsen bin, nie zu Besuch wäre. Aber es ist eben ein Besuch. Und wenn man mal darüber nachdenkt, interessant, denn wie viele kommen regelmäßig nach Hause, zumindest an Ostern, Weihnachten, um dann zwischen Festtagsbraten und Friedhof – ja, der mittlerweile leider auch – den Rest gar nicht mehr wahrzunehmen. Was beispielsweise aus dem alten Krämerladen geworden ist, wo sich nur die ganz Mutigen hineingetraut haben, weil die Inhaberin, die alte S., aussah wie eine Hexe (na ja, wie Kinder sich eben auch das vorstellen, mittlerweile jedenfalls lange schon tot und das seit je baufällige Haus abgerissen). Ob es die Eidechsen noch gibt, deren Schwanz man beim Versuch, sie zu fangen, allzuoft in der Hand hatte, dort am kleinen Bach hinter dem Block in der lange nicht geteerten Straße, dort am Rande der Siedlung (wo man später heimlich die erste Zigarette geraucht hat). Was also aus all den Orten, Plätzen, Erinnerungen, zwischen denen Kindheit sich abspielt, geworden ist.
Was auf jeden Fall aus dem Sonntagsspazierweg raus zu den Seen und dem Fluss geworden ist: eine Umgehungsstraße, über die die Laster donnern, auf dass der Ortskern entlastet werde. Und im Ortskern dann die üblichen, aufgelassenen Geschäfte, leere Schaufenster, wo einmal ein Schuhgeschäft, eine Metzgerei, ein Lebensmittelladen war. Und bei einem, wo Sperrholz hinter den staubigen Scheiben den Blick draußen halten soll, weiß ich gar nicht mehr, was darin vor Urzeiten mal verkauft wurde.
Man entfernt sich also nicht nur von Heimat, sondern diese auch von einem selbst. Noch ein Neubau-, Gewerbegebiet, noch ein Supermarkt, Discounter, und man ist unglaublich froh, dass es den Bäcker mitten in der alten Siedlung noch gibt, wo einem die Frau E. damals vor zig Jahren eine Schokolade geschenkt hat als Kind, weil man so fromm war in der Kirche bei der Erstkommunion. Die Bäckerei also ist noch da, samt Tagescafé, wie es immer noch heißt, vier Tische, an diesem Nachmittag aber leer. Wie lange es noch geht? Die Laugensemmeln, die es immer samstags zum Frühstück gab, jedenfalls waren die besten, drei davon bitte. Ob mich die Tochter noch kennt? Kurzes Stirnrunzeln, dann, durchaus erfreut: „Du bisch doch der...“– Ja, bin ich. Oder war ich. Vielleicht. Aber das gilt es ja gerade herauszufinden.
Herzliche Verabschiedung, und ja, man komme wieder, sie sagt dann noch, dass sie ja mittlerweile auch nicht mehr alle kenne, viele Neue seien her-, und viele der Jungen längst weggezogen.
Es ist schwer, Heimat wiederzufinden, wenn man sie sozusagen schon früh jeden Tag verlassen musste: Nach der vierten Klasse ging es in die Große Kreisstadt, aufs Gymnasium, als einer von nur dreien. Und alle drei gingen wir in andere Schulen, alle drei verloren wir uns schon damals weitgehend aus den Augen – vom Rest der Klasse, den Kameraden, mit denen man eben noch gespielt hat im Wald zur Donau runter, ganz zu schweigen.
Und irgendwann ging es dann zum Studieren, weiter weg, nach NRW, auch weil die Bücher, die seit Kindesbeinen gelesen wurden auf dem Teppich vor der Nachtspeicherheizung, im Laufe der Jahre wie so vieles komplizierter wurden und man wenigstens ein bisschen mehr verstehen wollte. Und natürlich auch, weil einem Dorf, Kreisstadt, die Heimat klein geworden war und irgendwie piefig, ja, das auch. „Es ist ein nicht wieder gutzumachendes Unglück, dass in Deutschland alles, was irgend mit dem Glück der Nähe, Heimat zu tun hat, der Reaktion verfallen ist; der Philisterei und Vereinsmeierei... An keinem alten Winkel kann man sich freuen ohne sich zu schämen und ohne Gefühl der Schuld“, schreibt beispielsweise der Philosoph Theodor W. Adorno, er schreibt auch von Nationalismus, was einem nun angesichts der erneuten politischen Auseinandersetzung um den Begriff Heimat und dessen Aufladung unmittelbar einleuchtet.
Damals, während des Studiums aber, war die Reaktion erst einmal eine andere, gegenteilige. Und man könnte das plötzliche Bekenntnis zu Weizenbier und dort droben natürlich nur vakuumiert zu bekommenden Weißwürsten, zu überhaupt allem, was bayerisch ist und also dem, vor dem man ja eigentlich geflohen ist, vielleicht ja als Dialektik des Inder-Fremde-Seins bezeichnen. Zu den üblichen Terminen, Festtagen fuhr ich jedenfalls immer gerne zurück, und wenn dann schließlich die Schwäbische Alb überquert war, war da auch so ein Gefühl, war das jetzt wie früher: Denn natürlich waren, zumindest zu den üblichen Terminen eben und Festtagen, alle da: Schul- und andere Freunde, bekannte Gesichter, längst in Deutschland, über den Globus verstreut, vom Kalender ein paar Mal im Jahr wieder zusammengewürfelt.
Und jetzt? Ich fahre auch da hin, in die Große Kreisstadt. An diesem grauen Wintertag aber, an dem gerade der Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz abgebaut wird und sich auf ebendiesem ansonsten recht wenig tut, ist niemand da, kein bekanntes Gesicht, nichts. Und die paar anderen kommen einem abweisend vor und schauen einen an, als wäre man selbst der Fremde.
Dabei konnte man damals, nach der Schule beziehungsweise egal zu welcher Tages- und Nachtzeit, sicher sein, irgendjemanden zu treffen, der Zeit hatte für ein kurzes Gespräch, einen Kaffee, aus dem dann manchmal auch Bier und Stunden wurden. Doch jetzt wüsste man gar nicht wohin. Die meisten Cafés und Kneipen gibt es nicht mehr, sind andere geworden, und dort, wo man sich früher in der Mittagspause seine Wurstsemmel holte, ist jetzt das „Gateway to India“.
Immerhin: In dem Café, in dem man damals viele Schul-, vor allem Sportstunden verbracht hatte, hängt immer noch und nach all den Jahren ein Bild, das ich mal gemalt habe, um mir dort noch ein paar Tassen Kaffee und Sportstunden zu leisten. Während man sich ungläubig umschaut, schauen die Bedienungen aber einen an, als sei man ein Verkäufer billig gefälschter italienischer Espressomaschinen. Ich gehe schnell wieder. Und merke: Heimat ohne die dazugehörigen Menschen drin ist leer und nicht viel mehr als nur Kulisse. Und vielleicht ist ja auch das der Grund, auch wenn ich längst wieder hier, in der Nähe, wohne, dass ich so selten noch dorthin fahre, an die alten Orte, Plätze. Sie sind in der Erinnerung einfach besser aufgehoben.
Ich drücke noch einmal die Klingel. Niemand da. Nach einem unschlüssigen Moment in der dämmrigen Nässe, vielleicht noch bei den alten Nachbarn vorbeizuschauen, ins Auto. Fahrt zurück mit roten Rollladenkästen vor Augen, die Laugensemmeln auf dem Beifahrersitz und einen anderen Philosophen, nämlich Ernst Bloch im Ohr, nach dem das, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, erst entstehen muss: „Heimat“.
Zu Hause dann an einem Sack Zement vorbei den Ofen angeschürt, und während der anfängt zu knacken, der schließlich heiße Glühwein einen langsam wärmt, aus dem Fenster geschaut. Auf die Birke vor dem Haus.