Steigt einer auf, muss ein anderer runter
Serie Die neue Klassengesellschaft funktioniert nach dem Paternoster-Prinzip. Dass das politisch eher nach rechts führt, zeigt sich bereits daran, dass die Sozialdemokratie international im Sinkflug ist und Nationalisten Auftrieb haben
Es war der Versuch eines Eklats: Da war mit dem Präsidenten Emmanuel Macron vermeintlich der neue Heilsbringer Frankreichs und der EU zur Eröffnung der Buchmesse nach Frankfurt gekommen – und der neue französische Star-Analyst der westlichen Gesellschaft meldete wütend seinen Boykott. Um später doch zu erscheinen und zu wettern, dass Macrons Wirtschaftsagenda die Gesellschaft immer weiter in die politisch prekäre Spaltung treiben werde. Nein, mit Didier Eribon sprach da kein antikapitalistischer Ideologe. Und er sprach auch nicht nur über Frankreich. In seinem Buch „Rückkehr nach Reims“hatte der Soziologe schlicht dokumentiert, wie in seiner alten Heimat ein Wir-Gefühl der Menschen zerfallen sei und gerade dadurch ein neuer Nationalismus aufgelebt habe.
Frankreich, Deutschland, Österreich, zuletzt auch Tschechien: Die Sozialdemokratie ist international im freien Fall; gleichzeitig erlebt die Rechte überall Auftrieb. Zu lesen ist das in Eribons nun erschienenem Folgebuch „Gesellschaft als Urteil“, aber vor allem im Werk „Die Gesellschaft der Singularitäten“seines deutschen Kollegen Andreas Reckwitz. Es zeichnet sich darin die Entstehung einer neuen Klassengesellschaft ab, mit einem neuen Prinzip. Reckwitz: „Im Fahrstuhl der Industriegesellschaft fuhren alle Schichten nach oben, wurden wohlhabender und konnten sich als Teil des Fortschritts empfinden. Im Paternoster der postindustriellen Gesellschaft hingegen fährt gleichzeitig eine Kabine nach oben, die andere nach unten.“
Es ist das große einordnende Bild zu dem, was Didier Eribon im Konkreten schildert. Seine Eltern waren einst mit aufgestiegen, als Arbeiter in die Mittelschicht und damit auch im positiven Gefühl einer Klassenzugehörigkeit, also klassische Links-Wähler, in Deutschland die Klientel der Sozialdemokraten. Doch als der Aufstieg stockte, der Stillstand sich allmählich wie ein Absinken anzufühlen begann und sich im wirtschaftlichen Wandel auch die einheimische Schicht der Arbeiter immer mehr zersetzte, vollzogen diese Wähler allmählich einen Schwenk nach rechts. Mit zwei ausschlaggebenden Motiven, Eribon: 1. Eine irgendwie noch linke Klassensolidarität hätte sie nun mit den Fremden vereinen müssen, gegen die sie sich früher gerade in ihrem Schichtbewusstsein auch abgegrenzt haben. 2. Sie waren links, weil ihnen der Aufstieg in der Schicht ihr Häuschen verschafft hatte – und sie wurden rechts, weil sie ihr Häuschen gegen all die drohende Konkurrenz nun auch behalten wollten. Und die, die sich einst als oberste Klassenkämpfer und Anführer der Arbeiter geriert hatten, waren dadurch längst zu „Klassenflüchtigen“geworden und weiter nach oben marschiert. Treue war denen jedenfalls nicht geschuldet.
Andreas Reckwitz systematisiert kristallklar jene Beobachtungen, die Eribon in auch theoretisch weitschweifigen Auseinandersetzungen gewinnt. Der Kultursoziologe aus Frankfurt/Oder spricht vom Entstehen einer neuen Mittelschicht an der Spitze einer „konflikthaften DreiDrittel-Gesellschaft“, in die die vorige „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“(Helmut Schelsky) inzwischen gespalten ist. Ausschlaggebend: 1. der technologisch-wirtschaftliche Wandel von der indusso triellen zur post industriellen Gesellschaft, die immer weniger den Typus Arbeiter kennt ;2. dieBil dungs expansion, die zu einem immer höheren Anteil an Studierenden führte ;3. der kulturelle Werte wandel „von den Pflicht-und Akzeptanz werten zu den Selbstv er wirklichungs werten nach 1968“.
Die neue Mittelschicht ist nach Reckwitz das Gewinner-Drittel. Meist urban lebend, akademisch gebildet, liberal und samt Meditation und Sport ein gutes, gesundes und genussreiches Leben führend. Auch der Beruf soll erfüllend sein. Es gilt hier die Individualität, bloß nicht „Durchschnitt Mittelmaß“sein.
Die anderen Drittel bilden die neue Unter- und die alte Mittelschicht. Und beide tendieren angesichts dieser Entwicklungen zu „riskanten politischen Einstellungen“. Unten die Niedriggebildeten, die sich durchwursteln in unattraktiven Berufen. Man fühlt sich sozial abgehängt, übervorteilt, die Wohnviertel sind unsicher, Zukunftsperspektive keine – ein Blick, der sich dadurch leicht auf die Kinder überträgt. Hier wählen Wut und Verdruss.
In der alten Mitte, vor allem im Ländlicheren, haben sich nach Rechwitz die Strukturen eigentlich erhalten: mittlere Abschlüsse, solide Jobs, eher klassische Werte – im Vergleich zur neuen Mitte wirkt vieles davon aber abgewertet und angesichts der rasant sich verändernden Wertewelt zudem bedroht. Hier wählen also Angst und Sicherheitsbedürfnis. Und im Gegensatz zur früheren Mittelstandsgesellschaft leben die Angehörigen dieses Drittels heute eher streng voneinander getrennt. In der neuen Mitte geht es nach oben, darunter eher nach unten, sozial und kulturell. Reckwitz: „Hier findet eine Entwertung von Lebensstilen, Werten und Qualifikationen“statt. Und: „Angesichts der Dynamik des Paternosters sind politische Konflikte nicht verwunderlich.“
Didier Eribon würde wohl an Emmanuel Macrons Ausspruch von einem „Zug in die Zukunft“denken, in den jeder eingeladen sei einzusteigen, es dann aber auch tun müsse. Als könnten da alle mit! Und was ist mit denen, die – warum auch immer – auf dem Bahnsteig bleiben? Andreas Reckwitz sieht dasselbe auch in Deutschland und in den USA …