Alle für das eine, doch jeder für sich
Serie Früher bedeutete Freizeitsport: Vereinsleben, Spaß am Spiel, Training, um besser zu werden. Heute bedeutet er: Fitnessstudio, Abschottung, Training, um besser auszusehen. Was ist da los?
Nehmen wir nur den Refrain: „Es lebe der Sport“, trällerte Rainhard Fendrich 1982. „Er ist gesund und macht uns hart. Er gibt uns Kraft, er gibt uns Schwung. Er ist beliebt bei alt und jung.“Ignorieren wir den Rest des Liedes, der unseren Voyeurismus und unsere Sensationslust aufs Korn nimmt. Bleiben wir beim Refrain und fragen: Stimmt es, was Fendrich singt? Und wenn ja: Bleibt das so?
Sicher ist, dass die Deutschen schon früh eine ganz spezielle Beziehung zur Leibesertüchtigung besaßen. „Laßt uns den Körper mehr abhärten, so wird er mehr Dauer und Nervenstärke erhalten; laßt uns ihn üben, so wird er kraftvoll und thätig werden; dann wird er den Geist beleben, ihn männlich, kraftvoll, unermüdlich, standhaft und muthvoll machen“, schrieb der Pädagoge Johann Christoph Friedrich GutsMuths 1793 in seinem Werk „Gymnastik für die Jugend“.
Ihm folgte ein paar Jahre später Turnvater Friedrich Ludwig Jahn, der die Grundlagen unseres heutigen Sports schuf – und doch nur schnöde Politik im Sinn hatte: Er wollte junge Männer zum Aufstand gegen die napoleonische Besatzung erziehen. Also ließ er über Klettergerüste und Gräben kraxeln. Typisch deutsch: Wer ohne Mitgliedsausweis war und keinen Unkostenbeitrag zahlte, durfte nicht mitmachen. Der Verein war geboren – bis heute der Deutschen liebstes Kind. Der ehemalige Sportfunktionär Manfred Freiherr von Richthofen das so: „Das ist das Deutsche am deutschen Sport: der Verein.“
2016 gab es in Deutschland 90 025 Sportvereine mit rund 23,8 Millionen Mitgliedern. Die Zahl stagniert seit Jahren. Längst schon hat der Fußball das Turnen als Spitzenreiter auf der Beliebtheitsskala abgelöst. Sieben Millionen Menschen kicken.
Der Sportverein ist die Gegenwart. Ist er auch die Zukunft?
Der neuralgische Punkt ist, dass Deutschland zum Land der Sitzer wird. Eine groß angelegte Studie der Techniker Krankenkasse aus dem vergangenen Jahr zeigt, dass die Menschen hierzulande durchschnittlich 6,5 Stunden täglich im Sitzen verbringen. Mehr als jeder Fünfte hockt sogar neun Stunden und mehr. Fast jeder Zweite der gut 40 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland ist ein Sitzplatz. Die Zahl der Übergewichtigen steigt stetig.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt mindestens 30 Minuten mäßige Bewegung an fünf Tagen in der Woche oder mindestens 20 Minuten intensive Betätigung an drei Tagen. Die Studie der Techniker Krankenkasse (TK) zeigt, wie die Realität aussieht: 30 Prozent der Bundesbürger treiben wenig Sport, 18 Prozent gar keinen. Nur knapp 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind Gelegenheitssportler, die entsprechend der WHO-Richtlinie trainieren.
Auf den ersten Blick passt das nicht zum grassierenden FitnessBoom. Zehn Millionen Menschen hierzulande sind Mitglied in einem Fitnessstudio. 2005 war es nur die Hälfte. Die Zahlen der TK-Studie legen nahe, dass viele Mitgliedschaften vor allem dazu dienen, das Gewissen zu beruhigen. Den Betreibern der rund 8700 Fitnessstudios in Deutschland kann dies recht sein. Faule Mitglieder sind die besten Mitglieder. Sie verbrauchen kein warmes Wasser, sie nehmen keinen Platz weg. Sie zahlen und kosten nichts.
Dennoch: Wenn der Sport eine Zukunft hat, könnte es eine einsame sein. Menschen mit Kopfhörern trainieren losgelöst von ihrer Umwelt in ihrem eigenen Mini-Kosmos vor sich hin. Für Neulinge sind Fitnessstudios schon jetzt seltsame Orte. Weil nahezu jeder seine Ohrwatscheln verstopft, wird dort kaum noch gesprochen. Jeder kommt und geht, wann er will. Das passt in eine Welt der Selbstoptimierung, die von dem Einzelnen immer größere Flexibilität verlangt. Sportvereine mit starren Strukturen bleiben auf der Strecke. Gemeinsames Training ist jedoch auf gemeinsame Trainingszeiten angewiesen. Vereine verlangen auch noch Engagement über das Training hinaus. Schon jetzt fehlen ehrenamtliche Helfer und Trainer an allen Ecken und Enden.
In den Großstädten ist das Verformulierte einsleben längst auf dem Rückzug. Der Zumba-Kurs mit Javier hat den Feierabend-Kick mit den Kumpels abgelöst. Fast die Hälfte der Sportler im urbanen Raum geht am liebsten ins Fitnessstudio. Praktischerweise wartet dort niemand, wenn der innere Schweinehund mal wieder stärker ist. Letzte Bastion des Vereinslebens ist der ländliche Raum: Nur rund 28 Prozent ziehen dort das Fitnessstudio vor.
Vieles deutet darauf hin, dass sich der Sportler von morgen jenseits von Vereinsstrukturen bewegt. Viele Fitnessstudios haben rund um die Uhr geöffnet. Gruppen finden sich in ungezählten Kursangeboten spontan zusammen und lösen sich genauso schnell wieder auf. Alles kann, nichts muss.
Viele Sportler trainieren schon heute nicht mehr, um besser zu werden. Stattdessen wollen sie besser aussehen. Unser Schönheitsideal hat sich verändert. Vorbei die Zeiten, als die perfekte Frau Kurven haben sollte. Den maskulinen Bierbauch ereilte das gleiche Schicksal. Der ideale Mann heute trägt zum Vollbart einen Waschbrettbauch. Fit aussehen ist wichtiger als fit sein.
Der Sport wird sich weiter verändern. Er ist schon lange ein Spiegel der Gesellschaft. Wir optimieren uns – mit allen Mitteln. Doping hat sogar im Hobbybereich Einzug gehalten. Herübergeschwappt aus dem Leistungssport. Und der hat mit dem klassischem Vereinsleben inzwischen gar nichts mehr zu tun. Aber das ist eine andere Geschichte, die wir ein andermal erzählen, bald, hier, an dieser Stelle.