Der ganz normale Ausnahmezustand
Fotografie Wie leben Flüchtlinge, wenn sie es erst einmal bis Europa geschafft haben? Herlinde Koelbl hat sich mit der Kamera auf den Weg gemacht in die Aufnahmelager
München Selbstvergessen sitzt sie in ihrem Zelt und liest. So, wie Jan Vermeers in sich gekehrte Frauen Milch ausgießen, Perlen abwiegen oder einen Brief schreiben – und dabei fast immer eine züchtige Haube tragen. Der Unterschied zu der jungen Frau im Zelt? 350 Jahre. Vor allem aber gehen Vermeers Damen ihren Aufgaben in gutbürgerlichen Häusern Südhollands nach, während sich die Lesende in einem Athener Flüchtlingslager auf ihre Seiten konzentriert.
Man fragt sich sowieso, wie ihr das in diesem Chaos überhaupt gelingt. „Und wie sie es geschafft hat, dieses Buch heil hierher zu bringen“, staunt Herlinde Koelbl. Die Münchner Fotokünstlerin hat im Auftrag des Europarats verschiedene Camps in Athen und auf Lesbos, in Messina und auch in Hamburg, Berlin oder Donauwörth besucht. „Ich wollte herausfinden, wie es nach der Ankunft der Flüchtenden weitergeht. Wenn die Schlaglichter von dramatischen Situationen des Ankommens erloschen sind und das alltägliche Leben beginnt“, erklärt Herlinde Koelbl. Um damit das abzubilden, was in den üblichen Nachrichten nicht unbedingt zu sehen ist.
Wobei die Fotografin natürlich auch die Menschenschlangen im Visier hat, die eine Stunde und mehr auf einen einzigen Stempel oder einen schlichten Teller Rigatoni warten. Auch den Stacheldrahtzäunen und den schier endlosen Reihen winziger Behausungen gilt ihr Blick. Doch mit Äußerlichkeiten gibt sich diese Soziopsychologin unter den Fotografen keineswegs zufrieden. Koelbl taucht weit ein in diese Welt des Übergangs, unterhält sich mit den Leuten – und sei es nur über Handzeichen. „Wenn sich jemand nicht fotografieren lassen möchte, merkt man das sofort“, erzählt sie. Manchmal braucht es allerdings auch etwas Zeit, bis ein gewisses Vertrauen entsteht und die Menschen etwa ihre Habseligkeiten aus den Taschen kramen. Ein abgegriffenes Kruzifix kommt dann zum Vorschein oder eine Packung Tee, eine Gebetskette oder ein Ring, der vielleicht noch von der Großmutter stammt.
Koelbl zeigt, wie sich die Menschen in diesem Durcheinander der Lager einrichten, und sie zeigt auch ihre Sehnsucht nach einer Spur Normalität. Das kann ein Gewürz aus der Heimat sein oder ein bisschen Schminke. „Gerade die Frauen“, hat sie beobachtet, „legen großen Wert darauf, sich nicht gehen zu lassen, selbst in den besonders harten Camps rund um Athen, wo erschreckende Bedingungen herrschen“. Am Spielzeug – da ist schon mal ein Messer dabei – und an den Aggressionen der Kinder kann man das am besten ablesen. Erst dann am Gesichtsausdruck der Väter, an den Augen der Mütter.
Herlinde Koelbl hat sich durch eindringliche Porträts einen Namen gemacht, in deutsche Wohnzimmer und damit tief in die deutsche Seele geblickt, Angela Merkel oder Joschka Fischer über Jahre zur Fotositzung gebeten, um die „Spuren der Macht“festzuhalten. Aber im Gegensatz zu solchen Langzeitstudien blieben ihr diesmal nur ein paar Monate. Das passt zum Thema, und man spürt das geübte Auge der Fotografin, die versierte Interviewerin. Gleichwohl würde man gerne wissen, wie’s nun tatsächlich weitergeht. Ob sich der junge Mann mit der goldenen Rettungsdecke noch schnell in eins der mobilen Toilettenhäuschen getraut hat – oder doch lieber gleich in den Bus gestiegen ist, um nur ja mitzukommen. Wohin eigentlich? „Refugees“Bis 7. Mai im Literaturhaus Mün chen, Salvatorstraße 1. Geöffnet Montag bis Freitag von 11 bis 19 Uhr, Donners tag bis 21.30 Uhr, Wochenende und Feiertage 10 bis 18 Uhr.