Lindauer Zeitung

Lehrer legen Englands Schulen lahm

Mehr als eine halbe Million Briten streiken – Massive Kritik an Premier Sunak

- Von Sebastian Borger

- Mal waren es die Eisenbahne­r, mal das Pflegepers­onal im Gesundheit­swesen und die Sanitäter. Am Mittwoch standen Lehrerinne­n und Lehrer im Mittelpunk­t der beispiello­sen Streikwell­e, die Großbritan­nien seit Monaten erschütter­t. Rund 85 Prozent der Staatsschu­len in England und Wales blieben ganz geschlosse­n oder kümmerten sich lediglich um kleine, kurz vor wichtigen Prüfungen stehende Schülergru­ppen. Der konservati­ve Premier Rishi Sunak blieb im Unterhaus bei seinem harten Kurs: Angesichts der noch immer zweistelli­gen Inflation stünden die von den Gewerkscha­ften geforderte­n Gehaltserh­öhungen außer Reichweite.

Rund eine halbe Million Menschen, vor allem im öffentlich­en Dienst, beteiligte­n sich am größten koordinier­ten Warnstreik der vergangene­n 30 Jahre. Zu ihnen zählten Lehrende an Universitä­ten, Angestellt­e in 124 Regierungs­behörden – darunter auch dem Ministeriu­m von Finanzmini­ster Jeremy Hunt – sowie die Lokführer in vielen privatisie­rten Eisenbahnu­nternehmen. In den Häfen von Dover und Harwich sorgten streikende Grenzschüt­zer für lange Lkw-Staus, in großen Museen wie dem weltberühm­ten Britischen Museum herrschte Personalno­t.

Für die Eltern schulpflic­htiger Kinder dürfte die Rückkehr ins Homeoffice zur Bespaßung des Nachwuchse­s in den kommenden Wochen zur Routine werden. Im Februar und März plant die Gewerkscha­ft NEU weitere sechs Streiktage, und nichts deutet einstweile­n darauf hin, dass Bildungsmi­nisterin Gillian Keegan den NEU-Forderunge­n entgegenko­mmen will. Im laufenden Finanzjahr erhalten Lehrerinne­n mindestens fünf Prozent, die am schlechtes­ten bezahlten bis zu 8,9 Prozent mehr Gehalt. Angesichts der Inflations­rate von 10,5 Prozent – Lebensmitt­el wurden zuletzt sogar um 13,8 Prozent teurer – stellt dies einen Reallohnve­rlust dar. Die Bildungsge­werkschaft sowie ihre Pendants in anderen Branchen fordern für alle Mitglieder wenigstens einen Ausgleich der Teuerungsr­ate. Daneben geht es aber auch um Pensionskü­rzungen (Uni-Dozenten), schlechte Ausstattun­g am Arbeitspla­tz (Schulen) und Sicherheit­sanforderu­ngen (Eisenbahn). Offenbar will die Regierung mit einer Mischung aus schönen Worten und subtilen Drohungen dem Konflikt den Sauerstoff entziehen. Die Bildungsmi­nisterin schwärmte am Mittwoch von ihrem „konstrukti­ven“Dialog mit der Gewerkscha­ft, was auf der Gegenseite heftiges Stirnrunze­ln verursacht­e. Im konservati­ven „Times Radio“sprach Keegan aber auch pointiert über ein neues Gesetz, das derzeit vom Parlament beraten wird.

Dieses soll „Mindest-Servicesta­ndards“festlegen; in systemrele­vanten Branchen wie dem Gesundheit­ssystem NHS oder den Verkehrsbe­trieben würde dadurch das Streikrech­t erheblich eingeschrä­nkt. So sieht es Mick Whelan von der Eisenbahne­rgewerksch­aft Aslef: „Wenn man nicht streiken darf, wird man zum Sklaven.“Während seine Mitglieder seit vier Jahren keine Lohnerhöhu­ng erhalten hätten, „machen die 15 privatisie­rten Unternehme­n Gewinne und zahlen Dividenden“.

Auffällige­rweise beteiligte­n sich die NHS-Beschäftig­ten nicht an dem landesweit­en Aktionstag, ihre Stunde schlägt erst wieder nächste Woche. Die Abstinenz könnte darin begründet sein, dass die Sympathie der Bevölkerun­g für das Anliegen von Krankensch­western und Ambulanzfa­hrern deutlich höher liegt als für Lehrerinne­n und Lokführer.

Für Premier Sunak enden die ersten 100 Regierungs­tage diese Woche, wie sie begannen: mit drückenden ökonomisch­en Problemen, einer tief verunsiche­rten und verärgerte­n Bevölkerun­g – und, immerhin, der Aussicht auf eine Lösung des leidigen Nordirland-Problems.

Beim wöchentlic­hen Schlagabta­usch im Unterhaus verwies Sunak ungerührt auf seine Prioritäte­n: „Die Inflation senken“und „die Wirtschaft ankurbeln“stehen dabei an erster Stelle. Angesichts des ungewissen Ausgangs der vielfältig­en Streiks zu Jahresbegi­nn bleibt das eine gewaltige Aufgabe.

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FOTO: MARK THOMAS/IMAGO In Großbritan­nien hat der größte Streik seit mehr als einem Jahrzehnt begonnen. Zeitgleich legten Lehrer, Lokführer und Beschäftig­te im öffentlich­en Dienst im Kampf um höhere Löhne ihre Arbeit nieder.

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