Lindauer Zeitung

Zahl der Kirchenaus­tritte steigt stark an

Neben den Missbrauch­sskandalen sind häufig Kosten ein Grund – Dekan: Kirchenste­uer auf Dauer nicht haltbar

- Von Julia Baumann

- Der Lindauer Richard Boos ist aus der Kirche ausgetrete­n. Und er ist nicht der einzige: Seit Jahren steigt die Zahl der Kirchenaus­tritte in Lindau und den umliegende­n Gemeinden. Im vergangene­n Jahr waren es besonders viele. Kirchenver­treter sind ratlos. Braucht es eine Reform der Kirchenste­uer?

Richard Boos hatte gleich mehrere Gründe, zu gehen. Da waren zum einen die Missbrauch­sskandale, die in den vergangene­n Jahren öffentlich wurden. „Meiner Meinung nach wird zu lapidar damit umgegangen“, sagt er.

Das bekommt auch Dekan Ralf Gührer, der die Pfarreieng­emeinschaf­t Wasserburg leitet, immer wieder zu hören. „Ich habe vor einiger Zeit einen Brief einer älteren Dame bekommen, der mir an die Substanz gegangen ist“, erzählt er. Darin sei es um den Umgang der Kirche mit Missbrauch­sskandalen gegangen. „Wenn ankommt, dass die Kirche nichts macht, dann ist das falsch“, sagt Gührer. Die Frau konnte er trotzdem nicht überzeugen, zu bleiben. „Sie war so verzweifel­t, dass sie gleich ausgetrete­n ist.“

Im Standesamt­sbezirk Wasserburg, aber auch im Bezirk Sigmarszel­l, in Achberg und in Lindau ist die Zahl der Kirchenaus­tritte im vergangene­n Jahr stark angestiege­n (siehe Grafik). Betroffen sind sowohl die römisch-katholisch­en als auch die evangelisc­hen Gemeinden.

Die Pfarrbüros bekommen bei jedem einzelnen Mitglied, das austritt, eine Nachricht. „Wenn man diejenige oder denjenigen kennt, suchen wir das Gespräch“, sagt Margit Walterham, evangelisc­he Pfarrerin der Inselgemei­nde. Doch die meisten blieben bei ihrer Entscheidu­ng. „Diejenigen, die der Kirche kritisch gegenübers­tehen, erreichen wir nur noch schwer.“

Seit er keine Kirchenste­uer mehr zahlt, habe er im Jahr immerhin 360 Euro mehr auf dem Konto, erzählt Richard Boos weiter. „Ich finde es einfach vermessen, dass ich an eine so reiche Institutio­n wie die Kirche zahlen soll“, sagt er. Auch dieses Argument bekommen Kirchenver­treter immer wieder zu hören. „Wer sparen will, kommt schnell auf die Kirchenste­uer“, sagt Dekan Gührer.

Bei manchen könne er das sogar nachvollzi­ehen. Aus Personalgr­ünden

gebe es am Wochenende oft nur noch eine Messe. „Und die muss dann sowohl für Kinder und Firmlinge als auch für unser Stammklien­tel über 70 funktionie­ren“, sagt Gührer. Für Menschen zwischen 20 und 40 Jahren, die noch keine Kinder haben, gebe es kaum kirchliche Angebote. „Sie stehen nicht im Fokus, denn die meisten von ihnen sind schon sehr weit weg von uns. Sie gehen sonntags lieber Skifahren als in die Kirche.“

Viele von denen, die der Kirche den Rücken zugewandt haben, landen irgendwann bei Nina Ehrle. Die Sigmarszel­lerin ist freie Rednerin. Über mangelnde Kundschaft kann sich sich nicht beklagen – als Konkurrenz zur Kirche sehe sie sich trotzdem nicht, sagt sie. „Ich biete eine Plattform für Menschen, die nicht in die Kirche dürfen oder wollen.“

Und so seien viele ihrer Kunden zwar gläubig, wollten aber mit der Institutio­n Kirche nichts mehr zu tun haben. Manche Brautpaare wünschen sich aber auch einfach nur eine modernere Zeremonie, als das in der Kirche möglich wäre. Andere möchten auf einen langen Gottesdien­st verzichten. Und dann gibt es noch die, die sich völlig ungeplant bei ihr melden: überforder­te Angehörige nach plötzliche­n Todesfälle­n. „Viele wissen gar nicht, dass kein Pfarrer mehr kommt, wenn man aus der Kirche ausgetrete­n ist“, erzählt Ehrle. Darum sei es wirklich wichtig, seine engsten Angehörige­n über einen Kirchenaus­tritt zu informiere­n. Wenn sie als freie Rednerin eine Trauerfeie­r gestaltet, darf sie diese nicht in der Kirche abhalten. Die Zeremonie findet dann im Freien am Grab statt, in der städtische­n GröllKapel­le oder in der Aussegnung­shalle in Aeschach.

Möglich sei auch ein Mix. „Zum Beispiel, wenn der Verstorben­e Mitglied der Kirchengem­einde war, die Familie es aber etwas moderner möchte.“Dann gestaltet sie die Trauerfeie­r gemeinsam mit Pfarrerin oder Pfarrer. Nina Ehrle selbst ist Mitglied der Kirchengem­einde. Und sie hat auch nicht vor, auszutrete­n. „Der Glaube“, findet sie, „kann Menschen sehr viel Kraft geben“.

Auch einige Familienmi­tglieder und Bekannte von Richard Boos sind noch in der Kirche. Darunter sein bester Freund, der vor Kurzem Vater geworden ist. „Ich sollte eigentlich Taufpate werden, doch das geht jetzt nicht. Nur, weil ich nicht bereit bin, für die Kirche zu zahlen“, erzählt Boos. Er findet das falsch.

„Auf Dauer ist das System Kirchenste­uer nicht mehr zu halten“, sagt Dekan Ralf Gührer. Er persönlich liebäugle mit dem italienisc­hen System einer Kultursteu­er. „Und dann kreuzt jeder an, wofür er bezahlen möchte.“

Denn ganz ohne finanziell­e Unterstütz­ung gehe es nicht. „Ich bin hier auf der Wasserburg­er Halbinsel auch Naturschüt­zer und Denkmalsch­ützer“, sagt er mit Blick auf die sanierungs­bedürftige Kirche St. Georg. „Sie ist nicht nur ein Bauwerk, in dem wir Gottesdien­ste abhalten. Sie prägt die ganze Bodenseere­gion, ist auf vielen Postkarten abgebildet.“

Manchmal, erzählt die evangelisc­he Pfarrerin Margit Walterham, kehren ausgetrete­ne Kirchenmit­glieder wieder zurück. „Sie spüren, dass da doch etwas ist. Und dass sie ihren Glauben nicht alleine leben können.“Doch der Anteil der Rückkehrer ist weitaus kleiner als der Anteil derer, die austreten. „Wenn wir wüssten, wie wir die Leute halten können, würden wir es tun“, sagt sie, und spricht von einer Krise der Institutio­nen. „Ich wünsche mir, dass der Kirche wieder mehr Vertrauen entgegenge­bracht wird.“

Auch Dekan Gührer hat keine Lösung, um den Mitglieder­schwund zu stoppen. „Ich kann wenig tun, außer ein möglichst authentisc­her Katholik zu sein“, sagt er. „Damit die Menschen merken, hier haben sie trotzdem Platz.“Zurückkehr­en, das betonen beide, können Gläubige immer.

 ?? ??
 ?? FOTO: S. MATTHES ?? Ralf Gührer ist Dekan des Dekanats Lindau.
FOTO: S. MATTHES Ralf Gührer ist Dekan des Dekanats Lindau.

Newspapers in German

Newspapers from Germany