Zahl der Kirchenaustritte steigt stark an
Neben den Missbrauchsskandalen sind häufig Kosten ein Grund – Dekan: Kirchensteuer auf Dauer nicht haltbar
- Der Lindauer Richard Boos ist aus der Kirche ausgetreten. Und er ist nicht der einzige: Seit Jahren steigt die Zahl der Kirchenaustritte in Lindau und den umliegenden Gemeinden. Im vergangenen Jahr waren es besonders viele. Kirchenvertreter sind ratlos. Braucht es eine Reform der Kirchensteuer?
Richard Boos hatte gleich mehrere Gründe, zu gehen. Da waren zum einen die Missbrauchsskandale, die in den vergangenen Jahren öffentlich wurden. „Meiner Meinung nach wird zu lapidar damit umgegangen“, sagt er.
Das bekommt auch Dekan Ralf Gührer, der die Pfarreiengemeinschaft Wasserburg leitet, immer wieder zu hören. „Ich habe vor einiger Zeit einen Brief einer älteren Dame bekommen, der mir an die Substanz gegangen ist“, erzählt er. Darin sei es um den Umgang der Kirche mit Missbrauchsskandalen gegangen. „Wenn ankommt, dass die Kirche nichts macht, dann ist das falsch“, sagt Gührer. Die Frau konnte er trotzdem nicht überzeugen, zu bleiben. „Sie war so verzweifelt, dass sie gleich ausgetreten ist.“
Im Standesamtsbezirk Wasserburg, aber auch im Bezirk Sigmarszell, in Achberg und in Lindau ist die Zahl der Kirchenaustritte im vergangenen Jahr stark angestiegen (siehe Grafik). Betroffen sind sowohl die römisch-katholischen als auch die evangelischen Gemeinden.
Die Pfarrbüros bekommen bei jedem einzelnen Mitglied, das austritt, eine Nachricht. „Wenn man diejenige oder denjenigen kennt, suchen wir das Gespräch“, sagt Margit Walterham, evangelische Pfarrerin der Inselgemeinde. Doch die meisten blieben bei ihrer Entscheidung. „Diejenigen, die der Kirche kritisch gegenüberstehen, erreichen wir nur noch schwer.“
Seit er keine Kirchensteuer mehr zahlt, habe er im Jahr immerhin 360 Euro mehr auf dem Konto, erzählt Richard Boos weiter. „Ich finde es einfach vermessen, dass ich an eine so reiche Institution wie die Kirche zahlen soll“, sagt er. Auch dieses Argument bekommen Kirchenvertreter immer wieder zu hören. „Wer sparen will, kommt schnell auf die Kirchensteuer“, sagt Dekan Gührer.
Bei manchen könne er das sogar nachvollziehen. Aus Personalgründen
gebe es am Wochenende oft nur noch eine Messe. „Und die muss dann sowohl für Kinder und Firmlinge als auch für unser Stammklientel über 70 funktionieren“, sagt Gührer. Für Menschen zwischen 20 und 40 Jahren, die noch keine Kinder haben, gebe es kaum kirchliche Angebote. „Sie stehen nicht im Fokus, denn die meisten von ihnen sind schon sehr weit weg von uns. Sie gehen sonntags lieber Skifahren als in die Kirche.“
Viele von denen, die der Kirche den Rücken zugewandt haben, landen irgendwann bei Nina Ehrle. Die Sigmarszellerin ist freie Rednerin. Über mangelnde Kundschaft kann sich sich nicht beklagen – als Konkurrenz zur Kirche sehe sie sich trotzdem nicht, sagt sie. „Ich biete eine Plattform für Menschen, die nicht in die Kirche dürfen oder wollen.“
Und so seien viele ihrer Kunden zwar gläubig, wollten aber mit der Institution Kirche nichts mehr zu tun haben. Manche Brautpaare wünschen sich aber auch einfach nur eine modernere Zeremonie, als das in der Kirche möglich wäre. Andere möchten auf einen langen Gottesdienst verzichten. Und dann gibt es noch die, die sich völlig ungeplant bei ihr melden: überforderte Angehörige nach plötzlichen Todesfällen. „Viele wissen gar nicht, dass kein Pfarrer mehr kommt, wenn man aus der Kirche ausgetreten ist“, erzählt Ehrle. Darum sei es wirklich wichtig, seine engsten Angehörigen über einen Kirchenaustritt zu informieren. Wenn sie als freie Rednerin eine Trauerfeier gestaltet, darf sie diese nicht in der Kirche abhalten. Die Zeremonie findet dann im Freien am Grab statt, in der städtischen GröllKapelle oder in der Aussegnungshalle in Aeschach.
Möglich sei auch ein Mix. „Zum Beispiel, wenn der Verstorbene Mitglied der Kirchengemeinde war, die Familie es aber etwas moderner möchte.“Dann gestaltet sie die Trauerfeier gemeinsam mit Pfarrerin oder Pfarrer. Nina Ehrle selbst ist Mitglied der Kirchengemeinde. Und sie hat auch nicht vor, auszutreten. „Der Glaube“, findet sie, „kann Menschen sehr viel Kraft geben“.
Auch einige Familienmitglieder und Bekannte von Richard Boos sind noch in der Kirche. Darunter sein bester Freund, der vor Kurzem Vater geworden ist. „Ich sollte eigentlich Taufpate werden, doch das geht jetzt nicht. Nur, weil ich nicht bereit bin, für die Kirche zu zahlen“, erzählt Boos. Er findet das falsch.
„Auf Dauer ist das System Kirchensteuer nicht mehr zu halten“, sagt Dekan Ralf Gührer. Er persönlich liebäugle mit dem italienischen System einer Kultursteuer. „Und dann kreuzt jeder an, wofür er bezahlen möchte.“
Denn ganz ohne finanzielle Unterstützung gehe es nicht. „Ich bin hier auf der Wasserburger Halbinsel auch Naturschützer und Denkmalschützer“, sagt er mit Blick auf die sanierungsbedürftige Kirche St. Georg. „Sie ist nicht nur ein Bauwerk, in dem wir Gottesdienste abhalten. Sie prägt die ganze Bodenseeregion, ist auf vielen Postkarten abgebildet.“
Manchmal, erzählt die evangelische Pfarrerin Margit Walterham, kehren ausgetretene Kirchenmitglieder wieder zurück. „Sie spüren, dass da doch etwas ist. Und dass sie ihren Glauben nicht alleine leben können.“Doch der Anteil der Rückkehrer ist weitaus kleiner als der Anteil derer, die austreten. „Wenn wir wüssten, wie wir die Leute halten können, würden wir es tun“, sagt sie, und spricht von einer Krise der Institutionen. „Ich wünsche mir, dass der Kirche wieder mehr Vertrauen entgegengebracht wird.“
Auch Dekan Gührer hat keine Lösung, um den Mitgliederschwund zu stoppen. „Ich kann wenig tun, außer ein möglichst authentischer Katholik zu sein“, sagt er. „Damit die Menschen merken, hier haben sie trotzdem Platz.“Zurückkehren, das betonen beide, können Gläubige immer.