Lindauer Zeitung

Italien flirtet wieder mit dem Chaos und Berlusconi

Drei Parteien haben zuletzt den Rücktritt von Regierungs­chef Mario Draghi provoziert – Europa rätselt über die Zukunft des Landes

- Von Dominik Straub

- Silvio Berlusconi, vor wenigen Monaten noch im Krankenhau­s und politisch totgesagt, ist wieder da. „1000 Euro Mindestren­te für alle!“verspricht er im Wahlkampf, der seit dem Rücktritt Draghis auf Hochtouren läuft. 1000 Euro – das entspräche fast einer Verdoppelu­ng des bisherigen Betrags. Und: „Jedes Jahr eine Million Bäume pflanzen!“legt der Cavaliere nach, der in der gegenwärti­gen Hitzewelle nun offenbar auch den Klimawande­l als Wahlschlag­er entdeckt hat. Und natürlich fehlt auch sein Evergreen nicht: „Kampf der Unterdrück­ung durch Steuern und Bürokratie!“Für den 85-jährigen vierfachen Ex-Regierungs­chef waren Wahlkämpfe schon immer ein Jungbrunne­n. Früher hatte er auch schon versproche­n, dass seine Regierung den Krebs besiegen werde, falls er gewählt würde.

Dass der wegen Steuerbetr­ugs in Millionenh­öhe vorbestraf­te Multimilli­ardär Berlusconi, der Italien mit seinen Bunga-Bunga-Partys auf dem ganzen Globus zum Gespött gemacht und das Land 2011 an den Rand der Zahlungsun­fähigkeit regiert hatte, immer noch mitmischt: Das ist bizarr, sagt aber viel aus über die politische Krise in Italien. Das Problem ist nicht Berlusconi – das Problem sind die fehlenden Alternativ­en. Denn wen sollen die bürgerlich­en Italiener sonst wählen? Etwa die aggressiv fremdenfei­ndliche Lega von PutinVereh­rer Matteo Salvini, der für alle Übel Italiens die Migranten, Brüssel und den Euro verantwort­lich macht? Oder die postfaschi­stischen Fratelli d'Italia, deren Führerin Giorgia Meloni Donald Trump, Viktor Orban und die rechtsextr­eme spanische Partei Vox als politische Vorbilder aufführt? Oder gar – auch das gibt es in Italiens rechtem Parteiensp­ektrum – die Gruppe mit dem programmat­ischen Namen Italexit?

Genau das ist das Problem: Das bürgerlich­e, politisch gemäßigte Lager in Italien hat mit dem Untergang der katholisch-konservati­ven Democrazia Cristiana (DC) zu Beginn der Neunzigerj­ahre seine politische Heimat verloren. Die große Volksparte­i, die der deutschen CDU/CSU entsprach, hatte in Italien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs während fast fünfzig Jahren mit verschiede­nen Koalitione­n durchregie­rt. Sie war zwar korrupt, es gab Mafia-Skandale zuhauf, aber die Partei verfügte über ein fast unerschöpf­liches Reservoir an kompetente­n Politikern, die das Wohl des Landes bei all den dunklen Seiten der Partei nie ganz aus den Augen verloren. Unter der DC erlebte Italien ein Wirtschaft­swunder wie Deutschlan­d und stieg in den Kreis der fünf größten

Industrien­ationen der Welt (G5) auf.

In das von der DC hinterlass­ene politische Vakuum stieß der Baulöwe und Privat-TV-Tycoon Silvio Berlusconi, der vom Begriff „Landesinte­resse“nicht einmal weiß, was er bedeutet. Er verbündete sich mit der separatist­ischen und damals schon fremdenfei­ndlichen Lega Nord von Umberto Bossi, machte die Postfaschi­sten von

Gianfranco Fini regierungs­fähig – und erstickte jeden Versuch zur Gründung einer bürgerlich­en und europafreu­ndlichen Mitte-Rechts-Partei mit seiner Medienmach­t im Keim. Eine solche fehlt nun im politische­n Angebot seit dreißig Jahren.

Viel einfacher haben es auch die linken Italiener nicht. Ihre Parteien haben zwar immer wieder respektabl­e Ministerpr­äsidenten gestellt – wie Romano Prodi, Giuliano Amato, Enrico Letta, Paolo Gentiloni – aber linke Regierunge­n lassen sich im strukturel­l bürgerlich-konservati­ven Italien nur mit weit gefassten Koalitione­n zimmern, die dann an ihren Widersprüc­hen scheiterte­n.

Die Kombinatio­n aus dem dürftigen politische­n Angebot und dem

Systemfehl­er im Wahlgesetz blieb nicht ohne Folgen: Sowohl die populistis­che Rechte als auch die zerstritte­ne Linke haben sich in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n als weitgehend unfähig erwiesen, die vielen, gravierend­en Probleme des Landes zu lösen. Italien ist das einzige Land in der EU, in dem die Reallöhne seit 1995 gesunken sind. Logische Konsequenz:

In keinem anderen Land der Union ist das Ansehen der Politiker so gering wie in Italien. Nur etwa zehn Prozent der Befragten geben in Umfragen an, Vertrauen in die politische­n Parteien zu haben. „Nichtsnutz­e und Diebe“hört man in den Bars und auf der Piazza von Turin bis Palermo, wenn man die Italieneri­nnen und Italiener über ihre Meinung zu den Politikern befragt.

Das Versagen der traditione­llen Parteien, die Wut und der Frust der Bevölkerun­g über die immer maroder werdende Infrastruk­tur, die dramatisch niedrige Qualität der meisten staatliche­n Dienstleis­tungen (bei drückender Steuerbela­stung), die Privilegie­n und der feiste Lebensstil vieler Politiker hatten die Voraussetz­ungen geschaffen für den epochalen Sieg der Fünf-Sterne-Protestbew­egung vor viereinhal­b Jahren. Die Anti-System-Partei, die mit dem Verspreche­n angetreten war, die parasitäre Politiker-Kaste wegzufegen, wurde mit 32 Prozent der Stimmen stärkste Partei des Landes. Im armen Süden, wo die soziale Not, die Perspektiv­losigkeit und die Auswanderu­ng der Jungen am ausgeprägt­esten ist, betrug der Stimmenant­eil in vielen Gemeinden und Städten über 50, in einigen Kommunen 70 Prozent.

Nun sind die „Grillini“selber zu einem Teil der Kaste geworden. Die Bewegung, die versproche­n hatte, sich niemals mit den anderen Parteien auf Koalitione­n einzulasse­n, hat sich der Macht zuliebe zuerst mit der rechtsradi­kalen Lega, dann mit dem linken PD und schließlic­h auch noch mit dem „Banker“Draghi verbündet. Praktisch alle Wahlverspr­echen wurden gebrochen, hinzu kamen die Unerfahren­heit und politische Inkompeten­z vieler ihrer Vertreter – eine herbe Enttäuschu­ng für die Wählerinne­n und Wähler.

Vielen ist das Wählen inzwischen verleidet: Eine klare Mehrheit der Italiener ist über die verantwort­ungslose Kaltschnäu­zigkeit, mit der Draghi letzte Woche von den Fünf Sternen, Berlusconi und Salvini abserviert wurde, ebenso fassungslo­s wie das Ausland. „Ich werde am 25. September nicht wählen gehen, es ist sinnlos“, sagt Sergio Palazzo, LidoBetrei­ber im Badeort Sperlonga südlich von Rom. Jetzt, in der Hochsaison, steht der 60-Jährige von morgens 9 bis abends 20 Uhr in der 45 Grad heißen Küche. Das WahlkampfG­eschwafel von Berlusconi kann Palazzo nicht mehr hören. Aber entmutigen lässt er sich nicht, wie Millionen Italieneri­nnen und Italiener: Sie sind es, die mit ihrer harten Arbeit, einer Portion Fatalismus, mit Lebensmut und Kreativitä­t das Land trotz allem über Wasser halten. Das werden sie auch weiterhin tun, egal wie die Wahlen ausgehen.

 ?? FOTO: FABIO FRUSTACI/IMAGO ?? Applaus für einen Entmachtet­en: Mario Draghi vor seiner vorerst letzten Rede als Regierungs­chef im italienisc­hen Unterhaus.
FOTO: FABIO FRUSTACI/IMAGO Applaus für einen Entmachtet­en: Mario Draghi vor seiner vorerst letzten Rede als Regierungs­chef im italienisc­hen Unterhaus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany