Helfer unterstützen in der Not
Das Kriseninterventionsteam hilft Angehörigen in den schwersten Stunden.
LINDAU - Einmal im Café die Seele baumeln lassen und dabei ein Stück Kuchen genießen oder mit Freunden über die Hafenweihnacht flanieren. Für die Mitglieder des Kriseninterventionsteams Lindau ist solch alltägliches gar nicht so einfach. Denn im Hinterkopf ist irgendwo immer der Gedanke: Was erwartet mich, wenn der Piepser losgeht? Wenn das Handy klingelt? Alles was sie wissen: Dann ist jemand gestorben. Und sie werden gebraucht. Denn sie unterstützen Angehörige in ihren schwersten Stunden.
Was muss man sich unter einem Kriseninterventionsteam vorstellen? Google gibt Antwort auf diese Frage. Die Helfer betreuen Angehörige wie bei einem schweren Zugunglück mit über 100 Toten in Eschede vor über 20 Jahren oder der German-WingsKatastrophe in Südfrankreich.
Vor vielen Jahren gründete Andreas Müller-Cyran in München weltweit das erste Kriseninterventionsteam. Das war 1994. Bei einem schweren Unfall mit einer Straßenbahn starb ein Kind. Die Eltern standen unverletzt und ohne fachliche Betreuung an der Unfallstelle. Ein Horrorszenario. Eltern verlieren ihr Kind. Und keiner hilft. Oder kann helfen.
Claudia Arnold kann sich in diese Situation nur allzu gut hineinversetzen. Denn auch sie hat ein Kind verloren. Und dann erlebt, wie es ist, alleine zu sein. Wie schwer es ist, sich aus der Dunkelheit wieder heraus zu kämpfen. Alleine. Denn keiner hat ihr geholfen. Heute leitet sie das Kriseninterventionsteam in Lindau. Seit 2002.
Warum tut sie sich das an? Freiwillig? Rund um die Uhr, sieben Tagen in der Woche, 365 Tage im Jahr? Da lächelt sie. „Aus christlicher Nächstenliebe.“Denn niemand solle mit dem Tod eines nahestehenden Menschen konfrontiert zu werden und in diesen schweren Stunden alleine sein. Das habe sie aus ihrer schweren Zeit mitgenommen. Nun gehe sie mit den Betroffenen „die ersten Schritte hinaus aus der völligen Dunkelheit.“
Es sei die biographische Betroffenheit, die alle in der Gruppe antreibe, erklärt Elke Buohler. Schon jeder sei mit Schicksalsschlägen konfrontiert gewesen. Und musste lernen, damit umzugehen. Mit dieser vermeintlich hoffnungslosen Situation. Aushalten, dass man gerade nichts tun könne, erklärt sie. Sie ist eine von 15 Ehrenamtlichen, die im Notfall rund um die Uhr bereitstehen. Das Lindauer Team existiert seit dem Jahr 2000. Seit 2009 fahren das Bayerische
Rote Kreuz und die evangelische und katholische Notfallseelsorge gemeinsam aus. Es war eines der ersten in Bayern. Immer zu zweit kümmern sie sich um einen Fall – so können sie besser interagieren. Und auch sich selbst in den Einsätzen unterstützen.
Was denn ihr größter Einsatz war? Darauf angesprochen lachen die Mitglieder des Kriseninterventionsdienst Lindau am Besprechungstisch in der Rettungswache in Lindenberg. „Jeder Einsatz ist groß“, sagt Martina Mücke. Denn bei jedem Einsatz sei der Tod anwesend. Und einen tragischeren Einschnitt im Leben gebe es nun mal nicht.
Plötzlich kommt der Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben, der Ehepartner begeht Selbstmord, oder die kleine Tochter stirbt den plötzlichen Kindstod. So unterschiedlich diese Ereignisse sind, haben sie doch auch Gemeinsamkeiten: den plötzlichen Tod. Und daraus resultiert dann die Frage: Wie mit der Trauer umgehen?
In solchen Momenten unterstützen die Helfer vom Kriseninterventionsdienst. Und vorneweg: eine Antwort auf die Frage haben auch sie nicht. Alarmiert werden sie von der Polizei, der Feuerwehr oder dem Rettungsdienst über die Rettungsleitstelle. Die Schocknachricht zu überbringen ist Aufgabe der Polizei.
Dazu ist sie nach dem Bayerischen Polizeiaufgabengesetz verpflichtet. Sie erläutert die Umstände, beantwortet Sachfragen – und geht dann wieder. Wer kommt und bei den Angehörigen bleibt, sind die Seelsorger. Wenn die Betroffenen das wünschen. Aufdrängen wollen sie sich nicht, sagt Elke Buohler. Aber sie seien einfach da. Fast immer versuchen sie, Angehörige oder Freunde zu informieren.
„Wenn wir ankommen, hat sich die Welt auf einen Schlag verändert“, erklärt sie. Denn: ein Mensch ist gestorben. Ob nun das schwere Zugunglück oder die 90-jährige Oma, die friedlich eingeschlafen ist: Diese Nachricht reißt den Angehörigen von einem Moment auf den anderen ein Loch in das Leben. Die Helfer wüssten nie, was sie hinter der Haustüre erwarte. Gibt es eine normale Reaktion auf einen Verlust eines Angehörigen? Wenn ja, wie sieht die aus? Nicht die richtige Frage sei das. Denn „jede Reaktion ist normal“sagt Martina Mücke.
Angst, Hilflosigkeit, Schuldgefühle. Körperliche Auswirkungen wie Schlafstörungen, Appetitlosigkeit oder gar die Lust auf Alkohol, um den Schmerz zu betäuben. Es gibt wohl nichts, was die Helfer nicht schon erlebt haben. Dann heiße es: Die Menschen reden lassen. Beruhigen. Einfach da zu sein. „Wir leisten erste
Hilfe für die Seele“, sagt Elke Buohler. In der Fachsprache nennt sich das dann psychosoziale Notfallversorgung. Kurz: PSNV. Per Definition beinhaltet sie die „Gesamtheit aller Aktionen und Vorkehrungen, die getroffen werden, um notfallbetroffenen Personen im Bereich der psychosozialen Be- und Verarbeitung von Notfällen zu helfen.“So steht es auf der Homepage der Bayrischen Notfallseelsorge.
Die Realität sieht dann so aus: Meist gehe es darum, einfach da zu sein. Manchmal würden sie mit Angehörigen nur stundenlang am Tisch sitzen. Ohne dabei ein Wort zu reden. Das muss man aushalten können, sagt Elke Buohler. Das Ziel der Ehrenamtlichen: Die betroffenen Menschen sollen wieder handlungsfähig werden.
60 bis 70 Einsätze haben sie im Jahr. In der Regel schaffen die Ehrenamtlichen es in drei bis vier Stunden, den Menschen wieder Struktur zu geben. „Wir bleiben, bis alles sortiert ist“, sagt Claudia Arnold. Was so einfach klingt, ist für so manchen unvorstellbar. Denn im Gegensatz zur Mehrheit der Bürger erleben die Helfer regelmäßig Extremsituationen.
Wie sie damit umgehen? „Man muss einen Ausgleich finden. Und man muss Fälle auch abschließen und sie nicht mit nach Hause nehmen“, sagt Alexander Schweiger,
PSNV-Ausbilder. Es ist das Prinzip: Zieht man den Dienstpullover aus, dann streift man auch den Dienst ab. „90 Prozent der Fälle kann man gut abschließen“, sagt er. Aber so mancher Fall gehe dann doch an die Substanz. „Wenn Kinder im Spiel sind .... “Mitgefühl sei essentiell. Denn wenn einen solch tragische Stunden kalt ließen, dann sei man einfach fehl am Platz. „Man muss schon wissen worauf man sich einlässt“, sagt er.
Ganz wichtig seien den Notfallseelsorgern die Teamsitzungen, um mal die Seele baumeln zu lassen. Oder um manche Fälle noch einmal durchzusprechen, sagt Elke Buohler.
Überhaupt das Team: Das sei wichtig. Denn eines sei bei ihren Einsätzen wichtig: Sie müssen sich auf den anderen verlassen können. Damit sich andere auf sie verlassen können.
Seit 20 Jahren gibt es mittlerweile das Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes im Landkreis Lindau. Die Mitglieder sind: Claudia Arnold, Angelika Assmann, Barbara Baumeister, Roman Baur, Elke Buohler, Magnus Geistenhof, Sandra Kurkowski, Martina Mücke, Alexander Schweiger, Tobias Bernhard, Irene Bilgeri, Jasmin Freitag, Brigitte Melch, Johanna Spieler und Alexander Steffen.