Wärme aus Wasser
Wie die Schweiz Energie aus dem Bodensee nutzt
ROMANSHORN - Wenn im Winter der Nebel dicht über dem Wasser schwebt und der See die im Sommer gespeicherte Wärme abgibt, ist es mit bloßem Auge erkennbar: das Energiepotential, das im Bodensee schlummert – durchaus vergleichbar mit einem Kernkraftwerk. Die Kantone St. Gallen und Thurgau wollen sich diese Wärme künftig noch mehr zunutze machen und greifen dafür tief in die Fördertöpfe. Am deutschen Ufer verpufft bisher die Energie.
Jetzt, da die erste Winterkälte Einzug hält, wird es kühler in den Klassenräumen der Kantonsschule in Romanshorn. Doch die Schüler können die Heizung guten Gewissens aufdrehen. Ihre Klassenzimmer werden bereits seit 30 Jahren beinahe CO2-neutral gewärmt.
Die Schule ist Teil eines Pilotprojekts, an dem auch 165 Haushalte beteiligt sind. Die Wärme für ihre Heizkörper kommt zum größten Teil aus dem Bodensee. Pro Stunde werden dazu bis zu 250 Kubikmeter Wasser aus 20 Metern Tiefe hervorgeholt. Sie landen über massive Rohre im Keller der Schule. Mit Kontrollstation, Pumpanlagen, Tanks, Wärmetauschern, Filtern und Leitungen an der Decke herrscht hier beinahe schon industrielle Atmosphäre. Die Anlage sorgt dafür, dass es auch im Winter in den Klassenzimmern angenehm warm wird. Vorhandene Gas- und Öltanks im Nebenraum sind nur noch für Ausnahmesituationen gedacht.
Selbst im Winter, wenn das Seewasser auf vier Grad abkühlt, reicht die Wärmeenergie aus. Möglich macht das der Wärmetauscher. „Der funktioniert im Prinzip wie ein Kühlschrank“, erklärt Michael Maucher von der Energieagentur Ravensburg/Bodenseekreis. „Nur dass das, was normalerweise im Kühlschrank drin ist, in diesem Fall im Bodensee hängt.“Das Wasser fließt im Wärmetauscher an einer Kühlflüssigkeit, beispielsweise Ammoniak, vorbei und gibt dabei an diese Wärme ab.
Die Kühlflüssigkeit ist so beschaffen, dass sie bereits bei sehr niedrigen Temperaturen verdampft. Das Gas wird danach mechanisch komprimiert, wodurch es sich stark erwärmt. In diesem Zustand wird es über Wärmepumpen in die Heizungsanlagen gespeist. „Das ist wie bei der Fahrradpumpe. Wenn man vorne den Daumen draufpresst und hinten pumpt, wird es am Daumen warm. Bei 20 Grad Lufttemperatur kann es am Daumen gerne mal 60 bis 80 Grad heiß werden“, sagt Maucher. Für die Komprimierung wird Strom benötigt – ein effizienter Wärmetauscher gibt aber das vierfache an Wärmeenergie zurück.
Das Wasser aus dem bei Touristen so beliebten See wird, nachdem es seine Aufgabe erledigt hat, wieder zurückgeleitet. In Romanshorn läuft es, bevor es wieder den Bodensee erreicht, noch durch eine Fischzuchtanlage. Ein kleiner Teil wird bei Bedarf zur Bewässerung der Sportplätze genutzt.
Einer der größten Verfechter solcher Anlagen ist Alfred Johny Wüest vom Schweizer Wasserforschungsinstitut Eawag. Das Institut gehört zur ETH Zürich und forscht zu nachhaltiger, umweltbewusster und effizienter Wassernutzung. Seine Vision: Nicht nur Schulen oder kleine Viertel sollen aus dem See beheizt werden, sondern ganze Regionen. „Das Energiepotenzial ist riesig. Sogar größer als bei einem Kernkraftwerk“, sagt er. Negative Effekte wie eine Abkühlung des Sees durch die Rückführung des abgekühlten Wassers, würden durch die Klimaerwärmung mehr als ausgeglichen. „Selbst wenn wir alle Energie für die Schweiz aus dem Bodensee entnehmen würden, würde das eine Abkühlung um 1,5 Grad Celsius bedeuten.“
Ein Einfluss auf Flora und Fauna sei, so Wüest, bei der tatsächlich geplanten Entnahme ausgeschlossen. „Nehmen wir an, die Million Menschen, die am Bodensee leben, würden alle mit Seewärme heizen. Dann hätten wir eine Abkühlung um gerade einmal 0,1 bis 0,2 Grad Celsius an der Oberfläche.“Im
Vergleich zur prinzipiell ähnlichen Erdwärme sieht Wüest vor allem bei der Verfügbarkeit einen Vorteil. „Gerade dort, wo eine hohe Gebäudedichte herrscht, kann man nicht einfach überall Löcher bohren. Außerdem ist nicht jeder Untergrund geeignet, und es ist schwer, Bewilligungen zu bekommen.“Der See dagegen biete eine riesige Fläche als Speicher.
Die schlummernde Wärme aus dem See zu nutzen, wäre ein effizientes Prinzip, aber zumindest anfangs auch ein teures. In der Schweiz, wo Geld bekanntlich manchmal eine weniger große Rolle spielt, sind bereits 16 SeewärmeAnlagen mit einem Wärmeumsatz von 34 Gigawattstunden pro Jahr im Einsatz. In Zug und Luzern sind große Seewärmeprojekte mit dem Zuger See und dem Vierwaldstätter See schon angelaufen. Auch die Kantone St. Gallen und Thurgau wollen künftig voll darauf setzen,
Wärme aus dem Bodensee zu gewinnen.
Die Abteilung Energie des Kantons Thurgau rechnet vor, dass der Wärmebedarf aller Gemeinden am Schweizer Ufer mit dem dort errechneten Bodensee-Potenzial von 2800 Gigawattstunden mehr als gedeckt werden könnte. Der tatsächliche Verbrauch liegt bei etwa 1400 Gigawattstunden. Nebeneffekt: die Einsparung von 200 000 Tonnen CO2. Die Bilanz des für die Kühlmittel-Kompression nötigen Stroms ist dabei schon bereinigt. „Jeder hat erfasst, dass es Zeit ist, von den fossilen Energien wegzukommen. Wir stehen in der Verantwortung“, sagt Andrea Paoli von der Energieabteilung des Kantons.
Um das Energievorkommen zu nutzen, sind allerdings große Investitionen nötig. Besonders dicke Leitungsrohre müssen verlegt, Wärmepumpen installiert, Haushalte oder Firmen angeschlossen werden. Damit sich Investitionen für Firmen und Haushalte rechnen, pumpt der Kanton Thurgau künftig kräftig Fördermittel ins System. 18 bis 20 Millionen Franken pro Jahr werden in den Ausbau gesteckt. Das Geld stammt aus den Töpfen der Schweizer Energieförderung. „Wir sind fähig in der Schweiz, und wir haben die nötigen Mittel“, ruft Andrea Paoli möglichen Investoren bei einer Infoveranstaltung in der Kantonsschule in Romanshorn entgegen. Viele machen sich im gut beheizten Raum eifrig Notizen. Ein Detail, das manchen überzeugen dürfte: Über die selben Anlagen können Gebäude im heißen Sommer mit kaltem Seewasser gekühlt werden. Die dadurch erfolgende Erwärmung des Sees liegt laut Wasserforscher Wüest „im vernachlässigbaren Bereich unter 0,1 Grad.“Vor allem, wenn im Winter dagegen wieder geheizt werde.
Berechnungen des Amts für Umwelt und Energie im Kanton Thurgau untermauern diese Annahme. Demnach seien bei einer realistischen Nutzung „keine nachteiligen Auswirkungen auf den Temperaturhaushalt zu erwarten“.
Nur zwölf Kilometer Luftlinie von Romanshorn entfernt am deutschen Ufer sind vorerst keine Fördermittel in Sicht. Man habe sich durchaus mit der Seewärmenutzung am Bodensee beschäftigt, teilt ein Sprecher des Umweltministeriums in Baden-Württemberg auf Anfrage mit. „Allerdings hat sich herausgestellt, dass die Option der Seewärmenutzung im Vergleich zu anderen Technologien sehr teuer ist. Insofern wurde keine Initiative weiterverfolgt.“
Rein rechtlich wäre es für private Investoren trotzdem möglich, mit Seewasser zu heizen. Die Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee hat bereits 2014 mit Blick auf den Umweltschutz die Auswirkungen berechnet und in einer Richtlinie entsprechende Regelungen festgelegt – auf Initiative der Schweizer. Am deutschen Ufer nutzen bislang allerdings nur MTU in Friedrichshafen und die Universität Konstanz Seewasser – zur Kühlung von Rechnern und Maschinen. Überlegungen von Gemeinden, den See für Heizungsanlagen zu nutzen, verliefen bisher im Sande.
In der Gemeinde Langenargen östlich von Friedrichshafen scheiterte 2017 eine Initiative in Zusammenarbeit mit der Energieagentur Bodenseekreis. „Es gibt unterschiedliche Problemstellungen“, sagt Michael Maucher von der Agentur. „Die Kosten sind das eine. Aber auch die Uferbeschaffenheit muss so sein, dass die Leitungen tief in den See gelegt werden können.“In Langenargen war das zwar der Fall. „Die Gründe für das Scheitern waren eher monetärer Art“, sagt Maucher. In Meersburg verlaufen Pläne, Seewärme für die Therme zu nutzen, im Sande. Zumindest auf deutscher Seite dürfte sich die Energie aus dem Bodensee also auch in absehbarer Zeit buchstäblich in Luft auflösen.
„Wir sind fähig in der Schweiz, und wir haben die nötigen Mittel.“
Andrea Paoli von der Energieabteilung des Kantons Thurgau
„Die Gründe für das Scheitern waren eher monetärer Art.“
Michael Maucher von der Energieagentur Ravensburg/Bodensee