Leiden und Mitleiden
In der Bad Saulgauer Kreuzkapelle wird das 12. Jahrhundert lebendig
Kruzifix für einen Wechsel in der Auffassung der Passion, der in der Hochromanik einsetzte. Nicht mehr der hoheitsvolle Erlöser sollte vom Kreuz herunterblicken, sondern der leidende, geschundene Menschensohn, der zum Mitleiden aufforderte. Dies klingt in dem Saulgauer Christus schon an: Mit seinen im Tod geschlossenen Augen strahlt er eine würdevolle Ruhe aus, deren Suggestivkraft man sich kaum entziehen kann.
Diese Wirkung dürfte auch ein Grund sein, warum er uns erhalten blieb. Ursprünglich wohl für die Kirche St. Johannes in Saulgau geschaffen, kam das Kreuz schon vor 1600 in die 1450 erbaute Kapelle, die ursprünglich Maria geweiht war. Während des Dreißigjährigen Krieg soll es – so geht die Legende – durch seine nächtliche Erscheinung im Strahlenkranz vor der Kapelle sogar die schwedische Soldateska in die Flucht geschlagen haben. Weil dem Kirchlein – mittlerweile auch Schwedenkapelle genannt – der Abbruch drohte, wurde das Kreuz 1789 in der Zeit der josephinischen Reformen wieder nach St. Johann verbracht, nur um zwei Jahre später in die dann doch eigens für das Kunstwerk erhaltene Kapelle zurückzukehren.
Inspiration für HAP Grieshaber
Auch ein großer Künstler des 20. Jahrhunderts wurde wohl von diesem Kruzifix in Bann geschlagen. Der gebürtige Oberschwabe HAP Grieshaber hatte sich gewünscht, dass seine 1969 entstandene Holzschnittfolge „Kreuzweg der Versöhnung“in der Saulgauer Kapelle aufgehängt wurde. Die Holzstöcke dieses 14-teiligen Zyklus sind heute in der Hofkirche von Bruchsal zu sehen, dort in den Farben Weiß und Gold gehalten. In Saulgau dagegen lädt die farbige Version zu einer Auseinandersetzung mit der Leidensgeschichte ein. Rund 800 Jahre liegen zwischen dem romanischen Kruzifix und Grieshabers Kreuzweg. Aber bei aller Unterschiedlichkeit lassen beide die Beseelung spüren, die wahre religiöse Kunst ausmacht.