Der Anti-Popstar
Ed Sheeran bricht derzeit alle Rekorde – Dabei wirkt der englische Singer-Songwriter wie einer von uns
Manche Gesten sind eindeutiger als Worte. Wenn ein Gesprächspartner mit dem Handy spielt, ist das kein gutes Zeichen. Entweder zeugt dies von Antipathie oder von Gleichgültigkeit. Als das Management von Ed Sheeran beim Southside Festival im Juni 2014 zum Interview-Marathon geladen hatte, gab es diesen Moment. Der heute 26-Jährige saß in seinem provisorischen Backstageraum im „Künstlerdorf“, beantwortete kurz die Fragen der Interviewer – und starrte zwischendrin auf sein Handy.
Vielleicht war auch die Ermüdung durch Erfolg der Grund für seine Apathie, gilt er, Edward Christopher „Ed“Sheeran, doch gemeinhin als „netter Junge von nebenan“. Schon 2012 sagte der Brite: „Ich will für ein Jahr das Tempo aus meinem Leben rausnehmen.“Daran war schon damals nicht zu denken. 2014 hatte der Singer-Songwriter, kurz vor dem Interview, bereits sein zweites Album „Multiply“veröffentlicht, ein für den Jungen mit Gitarre recht Hip-Hop/R’n’B-lastiges (Pharrell Williams hatte da seine Produzenten-Finger im Spiel). Mit „Multiply“sprang Sheeran von der Weltspitze in den Superstar-Zenit. InterviewMarathons, Festival-Auftritte und Touren folgten.
An Entschleunigung ist im Jahre 2017, dem Jahr des Rotschopfes, erst recht nicht zu denken. Mit seinem aktuellen Album „Divide“avancierte Sheeran zum erfolgreichsten männlichen Sänger der Gegenwart. Seit der Veröffentlichung überschlagen sich die Superlative. „Divide“soll mit 273 Millionen Durchläufen das meistgeklickte Album beim Streaming-Dienst Spotify sein, Sheeran füllt die größten Stadien bis auf den letzten Quadratmillimeter. Mit den Vorab-Singles, der Liebeserklärung „Shape Of You“und dem Folk-Song „Castle On The Hill“, erreichte er Platz 1 und 2 der deutschen und englischen Charts. Das hatte vor ihm noch niemand geschafft.
Der Junge von nebenan
Dabei ist Sheeran alles andere als ein hochgezogenes Kunstprodukt. Sheeran ist ein Anti-Popstar, ein Anti-Justin-Bieber. Bei Auftritten und in Interviews wirkt er, als habe er im Dunkeln in seinen Kleiderschrank gegriffen. Die Haarpracht ist so wenig Frisur, wie sie nur sein kann (Sheeran sagte dem „Tagesspiegel“einmal, ein Kamm sei das schlimmste Geschenk, das man ihm machen könnte).
Den Babyspeck scheint Sheeran nie abgelegt zu haben. Er könnte auch das Maskottchen seiner Heimatstadt, des 3000-EinwohnerNests Framlingham, sein. Sheeran ist kein durchgestylter Beau, der unerreichbar scheint, sondern ein Typ, mit dem man gerne bei einem Ale über Musik fachsimpeln würde. Er hat sich von den Kneipen-Bühnchen seiner Heimatstadt auf die Riesenbühnen der Arenen hochgespielt – ist dabei aber immer er selbst geblieben. Die Plattenfirmen haben keinen
Marketing-Mantel über ihn gelegt, sondern ihm seine Authentizität gewährt. Wenn Ed Sheeran ein Image hat, dann dass er keines hat.
Mit dieser neuen Natürlichkeit ist das Phänomen Sheeran genauso Thema in Kultursendungen der Öffentlich-rechtlichen wie in den Boulevard-Blättern. Das Feuilleton seziert die Karriere Sheerans, um seinen Erfolg zu ergründen, der Boulevard druckt Schlagzeilen wie „Läuten bald die Hochzeitsglocken?“
Gemeint ist übrigens eine mögliche Ehe mit Cherry Seaborn, die nicht die typische glamouröse „Spielerfrau“ist, sondern Normalo wie ihr Gatte in spe.
Eingängige Songs
Ed Sheeran ist talentiert genug, um sich diese Natürlichkeit erlauben zu können. Musikalisch gibt es bei ihm nichts zu kaschieren. Neben der Authentizität zeichnet ihn ein Gespür für große Songs, leise gespielt, aus. Seine Lieder sind eingängig, wirken wie gegossen, als könnte es zu den jeweiligen Texten nur die entsprechenden Melodien geben.
Das hat Sheeran sich früh angeeignet. Schon als kleiner Junge hört er im Elternhaus in Framlingham in Suffolk die Platten seiner Eltern durch, vorzugsweise jene von Bob Dylan und Van Morrison – da ist er gerade einmal vier Jahre alt. Überhaupt haben seine Eltern, die Schmuckdesignerin Imogen und der Dozent und Kurator John, ihm und seinem Bruder Matthew – klassischer Komponist – die Liebe zur Musik mitgegeben. Als Neunjähriger lernt Ed Sheeran die Texte der „Marshall Mathers LP“von Rapper Eminem auswendig – und heilt sich damit von seinem Stottern, wie er später verriet. Die Liebe zum Hip-Hop ist geblieben, in einige seiner Stücke hat Sheeran den Sprechgesang eingebaut.
Doch der Engländer bleibt vorrangig bei der Gitarrenmusik. Mit elf Jahren nimmt Ed das erste Mal eine Gitarre in die Hand, mit 14 veröffentlicht er auf „The Orange Rom EP“seine ersten fünf Lieder. Nach unzähligen Gigs in heimischen Pubs zieht er nach London. „Ich glaube, wenn ich in Suffolk geblieben wäre, hätte meine Karriere die eines Hobby-Musikers nicht überstiegen“, sagte Sheeran einmal in einem Interview.
In der britischen Hauptstadt soll Sheeran bis 2009 schließlich an die 300 Konzerte gespielt haben. Er tourt mit dem englischen Künstler Just Jack, Sir Elton John verpasst ihm mit öffentlichen Lobpreisungen den musikalischen Ritterschlag. Dennoch verlässt der junge Musiker 2010 die Insel und fliegt nach Los Angeles. Auch dort klimpert er jeden Club ab, wird vom Musiker und Schauspieler Jamie Foxx entdeckt, der ihm seine Couch als Schlafplatz und sein Tonstudio anbietet.
In Los Angeles nimmt Sheeran das „No. 5 Collaborations Project“auf, das sich in der ersten Woche über 7000 Mal verkauft. Er nutzt Kanäle wie Youtube, Facebook, Twitter und Instagram, wo ihm bis heute viele Menschen folgen – 18,7 Millionen sind es allein beim Kurznachrichtendienst Twitter.
Wenig später nimmt die Plattenfirma Atlantic Records ihn unter Vertrag. Die Debütsingle „The A Team“wird zum Erfolg, sein erster richtiger Langspieler „Plus“auch. Weitere Hits wie „Lego House“und „Drunk“machen ihn auch international immer erfolgreicher. Für den Film „Der Hobbit: Smaugs Einöde“aus dem „Herr der Ringe“-Kosmos nimmt er 2013 das Lied „I See Fire“auf und bringt damit die Herzen 40jähriger Mütter ebenso zum Schmelzen wie die ihrer 16-jährigen Töchter.
Von da an werden die Bühnen, auf denen Sheeran steht, immer größer. Er steht dort ganz allein, wie früher, als er noch vor Kneipenpublikum spielte. Zehntausende zücken vor ihm ihre Handys. Aber nicht aus Gleichgültigkeit. Sondern um diesen Moment einzufangen.
Ich glaube, wenn ich in Suffolk geblieben wäre, hätte meine Karriere die eines Hobby-Musikers nicht überstiegen. Ed Sheeran im Rückblick