Mehr als eine Totenmesse
Gelungene Uraufführung von Wolfgang Rihms „Requiem-Strophen“in München
MÜNCHEN - Im November 2015 war der Komponist Wolfgang Rihm anlässlich der 30. Internationalen Tage für Neue Musik zu Gast in Weingarten gewesen, unter anderem hatte man in der Basilika seine „Vigilia“für Vokalensemble und Instrumente erleben können. Am Donnerstag kamen im Münchner Herkulessaal als Kompositionsauftrag der Reihe musica viva seine „Requiem-Strophen“für Soli, gemischten Chor und Orchester zur Uraufführung. Wolfgang Rihm, der neulich seinen 65. Geburtstag feierte, konnte das Konzert krankheitshalber nicht besuchen. Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks, Chefdirigent Mariss Jansons höchstpersönlich, die mit Rihms Musik bestens vertrauten Solistinnen Mojca Erdmann und Anna Prohaska sowie der Bariton Hanno Müller-Brachmann verwirklichten die Uraufführung mit größtem Engagement.
Vorangestellt war den RequiemStrophen ein „Gruß-Moment 2“im Gedenken an Pierre Boulez, das die Berliner Philharmoniker im Februar diesen Jahres uraufgeführt hatten. Einen ersten „Gruß-Moment“hatte Rihm dem Komponisten und Dirigenten zu dessen 90. Geburtstag im Jahr 2016 gewidmet. Das zweite Werk ist schlanker besetzt, eine SoloOboe, die auch die „Requiem-Strophen“eröffnet, stimmt einen klagenden Ruf an, schwebende Bläserklänge mit hohen Flöten und kontrastierenden tiefen, schnarrenden Tönen von Kontrafagott oder Posaune erschaffen eine Gegenwelt zu sparsam eingesetzten Streichern. Eine kurze, heftige Steigerung im ansonsten ruhigen Verlauf und ein leiser QuartRuf der Pauke charakterisieren diesen klingenden Abschiedsgruß.
Wolfgang Rihm hat von Kind an, als er im Oratorienchor seiner Heimatstadt Karlsruhe sang, eine enge Beziehung zur geistlichen Musik, ebenso wie zu Texten geistlicher wie weltlicher Herkunft, die er, wie auch in diesen „Requiem-Strophen“, gerne verbindet. So treffen Sätze der lateinischen Totenmesse, der Missa pro defunctis, und des Psalms „De profundis clamavi“(„Aus der Tiefe rief ich, Herr, zu dir“) auf drei Sonette von Michelangelo Buonarroti in der Übertragung durch Rainer Maria Rilke, sowie auf Gedichte von Johannes Bobrowski („Der Tod“) und Rilke selbst: Dessen „Schlussstück“aus dem „Buch der Bilder“(„Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds“) bildet in dreimaliger Vertonung ein Zentrum. Im verinnerlichten Epilog des gut 80 Minuten dauernden Werks vertont Rihm schließlich das Gedicht „Strophen“von Hans Sahl mit seinen auf das Jenseits gerichteten Gedanken.
Ein vielschichtiges Ganzes
Die Texte ergänzen und beantworten sich gegenseitig, dadurch erzeugt Rihm ein eng aufeinander bezogenes, 14-teiliges, vielschichtiges Ganzes. Denn jeder Textebene sind verschiedene Interpreten zugeordnet. Höchst exponiert in stratosphärischen Sopranhöhen umschlingen sich die Stimmen von Mojca Erdmann und Anna Prohaska. Wie rankende Lianen bilden sie eine Einheit, mühelos und rein in der Stimmgebung, gleichsam losgelöst von aller Erdenschwere. Auch im erstaunlich transparent geführten, farbenreichen Orchester finden sich immer wieder Duette von Instrumenten gleicher Tonhöhe.
Die drei Michelangelo-Sonette überträgt Rihm hingegen dem Bariton-Solo von Hanno Müller-Brachmann, der sie mit der Stimmkultur des erfahrenen Liedersängers und getragen von dunkleren Orchesterfarben vorträgt. Den Chor führt Rihm bald flehend und stammelnd, in genau differenzierter Dynamik, bald mit intensiven Anrufungen oder im Stil alter Motetten, deren Linienführung freilich chromatisch erweitert ist. Gerade in den Chorteilen bauen Rihms „Requiem-Strophen“auch in der Orchestersprache auf einem spätromantischen Klangbild auf, sind ausdrucksstark, fließend, im Vergleich mit anderen Requien relativ sparsam in der Dramatik und doch ebenso intensiv.
Maestro Jansons, der sonst keine musica-viva-Konzerte dirigiert, verwirklicht auch diese Partitur mit leidenschaftlicher Emphase, Chor, Solisten und Orchester wurden begeistert gefeiert.
Wolfgang Rihm hat die Vorstellung, das neue Werk möge auch von einem „normalen“Oratorienchor und nicht nur von einem professionellen Rundfunkchor aufgeführt werden: Das bleibt vermutlich aufgrund der satz- und stimmtechnischen Anforderungen ein frommer Wunsch. Doch innerhalb der Tradition der Requiem-Kompositionen spricht es eine eigene Sprache.