Mit dem sechsten Sinn in einer anderen Welt
Das Ulmer Tanzballett führt im Stadttheater Tanzszenen über Sinne auf
LINDAU (bc) - Eine Atmosphäre wie aus einer mythischen, längst überkommenen Welt und zugleich von großer zeitgenössischer Präsenz hat das Ulmer Tanzballett am Donnerstagabend auf die Bühne gebracht. Rund 500 Zuschauer füllten die Ränge im Stadttheater und waren gespannt auf die „sechs Tanzszenen über Sinne“von zehn Tänzerinnen und Tänzern, die Choreograph Roberto Scafati seit Jahren erfolgreich leitet. Akustischer Höhepunkt war am Abend die Live-Performance von Perkussionist Friedrich Glorian.
Schon das Bühnenbild von Mona Hapke verriet, was da in den nächsten 60 Minuten kommen mag. Von weitem glaubte man, kreuz und quer durch den Bühnenraum gespannte Stangen zu erkennen. Doch spätestens, als die ersten Tänzer sich zeigten, war klar, dass es sich um Bänder handelt, die am Boden mit Sandsäcken fixiert sind, um spinnennetzartig den Raum mal mehr und mal weniger zu durchschneiden. Im Hintergrund waren zwei große metallisch glänzende Gongs zu erkennen. Darunter platzierte sich Soundkünstler Friedrich Glorian an seiner Perkussion. Das erzeugte eine klanglich von indischen und experimentell-elektronischen Einflüssen geprägte mystische Soundcollage.
Der sechste Sinn ist ein Extrakt aus fünf Sinnen
„Klang: Ich und Es“betitelt Roberto Scafati die im Oktober 2016 im Ulmer Podium uraufgeführte Inszenierung, die sich mit den fünf Sinnen auseinandersetzt. In einer letzten Szene verdichten sich alle Sinne und bilden eine Art Extrakt, der auf einer höheren Bewusstseinsstufe angelangt einen sechsten Sinn ergibt. Die zehn Tänzer sind mit Beatriz Caravetto, Giulia Insinna, Beatrice Panero, Julia Anna Sattler, Ceren Yavan-Wagner, Bogdan Muresan, Damien Nazabal, Daniel Perin, Alessio Pirrone und Pablo Sansalvador zugleich fünf Paare, die sich immer wieder neu finden und so nie ein einzelnes Paar im Fokus steht.
Die erste Szene manifestiert den „Geruch“. Scafati und Glorian haben sich daran orientiert, was den Geruchssinn ausmacht. Zuvorderst steht das „Ich“, als Element kommt „Erde“, Körperregion sind „Füße, Beine, Knie“, Eigenschaft ist „dicht, solide, schwer, verwurzelt“, Richtung geht „zum Boden“, Farbe ist „Gelb, Ocker“, Rhythmus sind „vier Schläge“. Diese Vorgaben dienen als Orientierung bei der Umsetzung von „Der Geruch“, den das Ensemble mit dem Versetzen der Bänder eröffnet. Das gleicht einem Schachspiel. Intuitiv mit dem genauen Wissen, wo was hingehört, geht das von statten. Dazu erklingen Trommelrhythmen, die indigene Klangmuster wachrufen. Beeindruckend ist dieses Zusammenspiel von Musik und Tanz. Lustvoll und dynamisch fließen Körperbewegungen ineinander, ohne jemals den Kontakt zueinander zu verlieren.
Die Kostüme von Mona Hapke lassen die Tänzer zeitlos erscheinen. Schwarz und Weiß dominieren. Im Kontrast zu dieser Gegenwärtigkeit steht ganz stark der sinnliche Aspekt. Diese Wahrnehmung war auf Zuschauerseite im Saal deutlich spürbar. Stille herrschte dort, man war in einer anderen Welt angekommen. Angesichts heutiger Reizüberflutungen ist diese Inszenierung eine wahre Erholung, sprich Bereicherung für alle Sinne. Mit einer feinfühligen Lichtregie geht es darum, das „Ich“und „ES“mittels Klang immer wieder neu zu verknüpfen. Das drückt sich in „Der Geschmack“zu plätschernden Geräuschen in schwebenden Hebefiguren im Zeitlupentempo aus. In „Das Sehen“durch eine gelb gekleidete Tänzerin, die sich quirlig zu einer vibrierenden Gong-Performance gibt. Langsam wandelte sich das Bild hin zu einer Art Tempeltanz, bei dem Paare in den Fokus rücken, während das umstehende Ensemble Trommelrhythmen schlägt. Nichts scheint still zu stehen. Alles ist ständig in Bewegung, wobei Körper im Nu verschmelzen und sich wieder lösen. Scafatis Inszenierung ist voller Magie, von der man nicht genug bekommen kann. Mit minutenlangem Applaus und Bravorufen zollte das Publikum der Ulmer Compagnie Respekt.