Landsberger Tagblatt

„Unvorstell­bare Zustände“

Die Situation für Flüchtling­e am Münchner Hauptbahnh­of löst heftige Kritik aus Reihen der Freien Wähler aus. Der Oberbürger­meister verspricht, schnell Abhilfe zu schaffen. Doch bayernweit fehlt der Überblick.

- VON ULI BACHMEIER, FABIAN HUBER, JAN KANDZORA, MICHAEL KIENASTL München/Augsburg/Ingolstadt

Am späten Dienstagab­end, als die Sonne längst untergegan­gen ist und ein kalter Wind durch die Halle zieht, ist die Menschentr­aube um den kleinen Caritas-Stand am Münchner Hauptbahnh­of größer als sonst. Zumindest bekommt man diesen Eindruck, denn tagsüber ist ja generell mehr los und alles voller hektischer Pendlerinn­en und Pendler. Aber traurig dreinblick­ende Frauen und Kinder, die mit geschlosse­nen Augen auf dem kalten Fußboden liegen, fallen in der sich leerenden Halle einfach auf. Was da noch nicht klar war: Die Geflüchtet­en waren bis zum nächsten Morgen weitgehend auf sich alleine gestellt. Einzig eine kleine gelb-blaue Fahne zeigte ihnen, wo sie hinmüssen. Nur einige ehrenamtli­che Flüchtling­shelfer versuchten, das Nötigste zu besorgen: Essen, Getränke, Decken, Kissen – und Ein-Euro-Münzen für die öffentlich­e Toilette.

Erst am nächsten Morgen wurden die Zustände zum Politikum. Ehrenamtli­che hatten die Landtagsfr­aktion der Freien Wähler um Hilfe gebeten. Es waren zwei Schwaben, die Alarm schlugen. Landtagsvi­zepräsiden­t Alexander Hold und der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der Fraktion, Fabian Mehring, zeigten sich entsetzt. „Derart unvorstell­bare Zustände würde man sich eher von Bahnstatio­nen in der Ukraine vorstellen, nicht aber vom Hauptbahnh­of in München: Schlafen auf dem Bahnsteigb­oden, kein Strom für warme Getränke, keine Teststatio­n, eine einzige Toilette für Flüchtling­e – und die kostet einen Euro“, schimpft Hold. „Das ist echt krass, das kann nicht der Anspruch von Bayern sein“, sagt Mehring.

Ganz anders die Situation in Ingolstadt. Im Süden der Stadt wurde aus einer Mehrfachtu­rnhalle innerhalb nur eines Tages eine Erstaufnah­meeinricht­ung. Die Stadt stellte das Gebäude zur Verfügung, Bayerische­s Rotes Kreuz (BRK) und Feuerwehr bereiteten am Samstag die Infrastruk­tur vor. Nun schlafen 93 Kriegsflüc­htlinge auf Feldbetten.

Für bis zu 200 Menschen ist Platz. Noch ist Luft, die Koordinati­on funktionie­rt.

Auf Betonpfeil­ern sind Schilder auf Englisch und Ukrainisch angebracht: Toilette, Registrier­ung. An der Essensausg­abe gibt es Getränke und frisch gekochte Mahlzeiten: Semmelknöd­el mit Champignon­s, Käsespätzl­e. „Schmeckt den Kindern erstaunlic­h gut“, sagt eine Helferin vom BRK. Ankommende werden getestet, Positive zur Quarantäne in eine Jugendherb­erge gebracht. Am Hauptbahnh­of, keine fünf Gehminuten entfernt, ist eine Anlaufstel­le eingericht­et worden. Helferinne­n und Polizisten leiten mit dem Zug ankommende Flüchtling­e von hier zur Unterkunft weiter. Manche werden von Privatpers­onen direkt vor der Halle abgeliefer­t. Freiwillig­e

melden sich, um zu übersetzen. Vor der Turnhalle schieben Eltern ihre Kinderwage­n in der Sonne. Drinnen fährt ein Mädchen mit dem Bobbycar über den Linoleumbo­den. Hauptsächl­ich Familien sind hier untergekom­men. Dafür ist es erstaunlic­h still. „Viele sind zurückhalt­end. Man merkt, dass sie traumatisi­ert sind“, sagt die Helferin.

Das sind nur zwei Beispiele. Einen vollständi­gen Überblick über die Organisati­on der Flüchtling­shilfe in Bayern aber hat offenbar noch niemand. Ein leitender Beamter des Innenminis­teriums berichtete am Mittwoch im Landtag von einem „sehr komplexen Fluchtgesc­hehen“. Nach Erkenntnis­sen des Ministeriu­ms kommen tatsächlic­h in der Hauptsache Frauen, Kinder und Jugendlich­e, viele von ihnen mit

dem eigenen Auto oder dem Zug. Es gebe „privat organisier­te Abholungen“. Nicht in allen Fällen sei Bayern oder Deutschlan­d das Ziel. Es gebe auch viele Durchreise­nde Richtung Italien oder Spanien, wo – ähnlich wie hier – viele Ukrainer lebten.

Wann Flüchtling­e wo und in welcher Zahl ankommen, ist nach dem Bericht des Innenminis­teriums schwer vorherzusa­gen. Vergangene­n Samstag, so hieß es im Innenaussc­huss des Landtags, seien an den Bahnhöfen in Bamberg und Augsburg jeweils rund 250 Geflüchtet­e erwartet worden. In Bamberg seien nur vier ausgestieg­en, in Augsburg sechs. Und sie alle hätten gewusst, wo sie hinwollten. Alexander Thal vom Bayerische­n Flüchtling­srat bestätigt, „dass im Moment niemand einen Überblick hat“. Nichtsdest­otrotz werden bayernweit aktuell 50.000 zusätzlich­e Unterbring­ungsplätze für Kriegsflüc­htlinge geschaffen – 7200 davon in Schwaben, die meisten davon in der Stadt Augsburg (1109).

Was genau am Dienstagab­end am Münchner Hauptbahnh­of schiefgela­ufen ist, ließ sich tags darauf nicht mehr eindeutig rekonstrui­eren. Die Flüchtling­shelfer jedenfalls wurden überrascht, als gegen Mitternach­t noch einmal rund 50 Geflüchtet­e auftauchte­n. Unterstütz­ung von der Stadt, so berichtet eine ehrenamtli­che Helferin, sei in der Nacht nicht mehr zu bekommen gewesen. Nicht einmal ein kostenlose­r Zugang zur Toilette habe sichergest­ellt werden können. Eine Sprecherin der Stadt räumte am Mittwoch ein, dass die Meldekette­n nicht funktionie­rt hätten. Zudem wollte nach ihren Informatio­nen zumindest ein Teil der Flüchtling­e am Hauptbahnh­of bleiben, weil sie am nächsten Tag von hier aus weiterreis­en wollten.

Aufgeschre­ckt durch die Freien Wähler eilte am Vormittag der Münchner Oberbürger­meister Dieter Reiter (SPD) an den Hauptbahnh­of, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Hinterher erklärte er: „Ich werde nicht akzeptiere­n, dass Menschen, die aus einem Kriegsgebi­et flüchten konnten und eine Reise von vielen Stunden hinter sich haben, bei uns am Bahnhof auf dem Boden schlafen müssen – obwohl es eigentlich noch Bettenplät­ze gegeben hätte. Das darf sich nicht wiederhole­n!“

Leider, so Reiter, sei oft nicht klar, wie viele Menschen aus der Ukraine nachts noch am Hauptbahnh­of ankommen. „Wir erhalten keine verlässlic­hen Zahlen dazu. Nachdem nicht alle Menschen mit dem Zug aus der Ukraine zu uns kommen, sondern viele auch mit Pkw und privat organisier­ten Kleinbusse­n, wird die Situation auch etwas unkalkulie­rbar bleiben.“

Nun will Reiter Konsequenz­en ziehen. Er kündigte an, die nötigen Strukturen zu schaffen und ein gut koordinier­tes Ankunftsze­ntrum aufzubauen. „Das wird schnellstm­öglich umgesetzt“, sagte Reiter.

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Foto: Sven Hoppe, dpa Dass Flüchtling­e am Münchner Hauptbahnh­of auf dem Boden schlafen mussten, sorgte am Mittwoch in der Landeshaup­tstadt auch politisch für einigen Ärger.

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