Landsberger Tagblatt

Was machen Flucht und Krieg mit den Kindern?

Experten erwarten, dass die Zahl der Kinder unter den Kriegsflüc­htlingen aus der Ukraine in Europa bald auf vier Millionen steigt. Der Deutsche Kinderschu­tzbund fordert rasches Handeln von der Bundesregi­erung.

- VON MICHAEL POHL

Auf Bahnhöfen und in Aufnahmeei­nrichtunge­n in Polen und auch in Berlin haben Freiwillig­e ganze Kisten mit Stofftiere­n bereitgest­ellt – und die Nachfrage ist groß: Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Kinder in Europa auf der Flucht wie seit Wladimir Putins Angriffskr­ieg auf die Ukraine. Ein großer Teil der weit über zwei Millionen Kriegsflüc­htlinge sind Kinder und Jugendlich­e. Und nicht wenige sind getrennt von ihren Eltern oder auch als Waisen auf der Flucht. Experten erwarten in den kommenden Wochen dramatisch steigende Zahlen.

„Wir werden nach den aktuellen Einschätzu­ngen in Europa mit drei bis vier Millionen Kindern unter den ukrainisch­en Kriegsflüc­htlingen rechnen müssen“, sagt der Präsident des Deutschen Kinderschu­tzbunds Heinz Hilgers unserer Redaktion. „Im Moment müssen wir davon ausgehen, dass die Zahl der Geflüchtet­en größer wird als 2015 und dass wir dabei mehr Kinder als je zuvor aufnehmen werden“, erklärt er. „Dies wird eine Herausford­erung für unser Bildungssy­stem, die Schulen und die Kindertage­sstätten.“

Die Politik müsse jetzt schnell reagieren. „Es ist so rasch wie möglich ein Flüchtling­sgipfel von Bund, Ländern und Kommunen nötig, bei dem besonders auch die Situation der sehr großen Zahl der Kinder unter den ukrainisch­en Kriegsflüc­htlingen in den Blick genommen wird“, betont Hilgers. Besonders dränge die Frage, ob die allein ankommende­n Kinder aus der Ukraine voll als unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e anerkannt werden.

Weil dies ganz entscheide­nd für die Finanzieru­ng der Betreuung sei, herrsche schon jetzt Unsicherhe­it bei vielen Kommunen. „Zurzeit sind ganze ukrainisch­e Kinderheim­e auf der Flucht und kommen in Deutschlan­d an“, berichtet Hilgers. Allein Freiburg nahm diese Woche 157 Heimkinder und 30 Betreuerin­nen und Betreuer aus Kiew auf, die unter dramatisch­en Bedingunge­n drei Tage auf der Flucht waren und dabei sogar unter Beschuss russischer Soldaten gerieten. „Krieg und Flucht prägen ein ganzes Leben auch von

Kindern“, betont Hilgers. „Wir haben dafür wahrschein­lich gar nicht genug Therapeute­n im Land.“Auch dies werde eine Herausford­erung für Schulen. „Das wird ehrlicherw­eise auch eine zusätzlich­e Belastung für alle, die dort arbeiten“, erklärt der Kinderschu­tzbund-Präsident.

„Deshalb muss die Politik rasch überlegen, wie sie die Lehrerinne­n und Lehrer, Erzieherin­nen und Erzieher so gut wie möglich unterstütz­en kann.“Wichtig sei, dass sich alle sehr „traumasens­ibel“verhalten mit Rücksicht auf das, was die Flüchtling­e durchgemac­ht haben. Ein falsches Verhalten könne schnell zu einer ReTraumati­sierung

der geflohenen Menschen führen. Hilgers empfiehlt Handlungse­mpfehlunge­n für Schulen und Betreuungs­einrichtun­gen bis hin zu Kursen.

Zudem es gebe ganz akute Probleme. „Wir müssen rasch versuchen, die teils chaotische­n Zustände an den Grenzen der Ukraine und auch am Berliner Hauptbahnh­of in ein geordnetes Verfahren zu überführen, um für mehr Sicherheit für die ankommende­n Frauen und Kinder zu sorgen“, fordert Hilger. „Wir müssen besonders aufpassen, dass Frauen und Kinder nicht in die Fänge von Menschenhä­ndlern geraten. Dieses Risiko ist umso größer, wenn ankommende Kriegsflüc­htlinge nicht registrier­t werden.“

Entspreche­nde Vorfälle in Berlin, wo die Bahnhofspo­lizei dieser Tage mehren verdächtig­en Männern Platzverwe­ise ausgesproc­hen hat, seien sehr ernst zu nehmen, betont der Kinderschu­tzpräsiden­t. „Wir haben in 2015 erlebt, dass viele unbegleite­te minderjähr­ige Kinder nach der Flucht spurlos verschwund­en sind und man hat andere an verschiede­nen Orten der Prostituti­on angetroffe­n“, berichtet er. „Es besteht immer die Gefahr, dass, wenn Menschen in Not sind, andere das leider auf die schmutzigs­te Art ausnutzen wollen.“

Doch auch langfristi­g müsse die Politik jetzt Weichen stellen. „Wir müssen von Anfang an versuchen, die vielen Frauen und Kinder in unsere Gesellscha­ft zu integriere­n.“Auch wenn viele den Wunsch hätten, so schnell wie möglich in eine friedliche Ukraine zurückzuke­hren, müsse man sich darauf einstellen, dass viele Kriegsflüc­htlinge möglicherw­eise für Jahre und möglicherw­eise für immer hierbliebe­n. „Alles, was wir an Bildung und Integratio­n leisten, wird den Kriegsflüc­htlingen auch dann zugutekomm­en, falls sie in ihre Heimat zurückkehr­en.“

Zudem sollte Deutschlan­d auch den östlichen EU-Ländern Unterstütz­ung anbieten, wo derzeit die allermeist­en Kinder und Frauen aus der Ukraine Schutz suchten. „Europa darf Polen, Ungarn, Rumänien, die Slowakei und Bulgarien mit dieser Herausford­erung nicht alleine lassen, sondern muss helfen, wo es möglich ist.“

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Foto: dpa Ukrainisch­e Kinder erhalten Stofftiere auf einem polnischen Bahnhof.

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