„Es geht jetzt schlicht um Menschenleben“
Intensivmediziner-Präsident Gernot Marx erklärt, wie sich die Lage an den Kliniken wegen immer mehr Corona-Patienten dramatisch zuspitzt. Viele Intensivstationen laufen bereits über. Die Politik müsse sofort handeln
Herr Professor Marx, es scheint, die Politik nimmt Ihre Warnungen vor einer Überlastung der Intensivstationen nicht ernst genug. Wie schwierig ist die Lage schon jetzt in den Klinken? Gernot Marx: Die Lage entwickelt sich leider genauso, wie wir es in den ungünstigsten unserer Szenarien vorhergesagt haben. Wir erleben einen ungebremsten Anstieg der Infektionen und einen ungebremsten Anstieg der Intensivpatienten. Die Intensivstationen laufen an vielen Klinikstandorten voll. Wir haben zwar noch einige sogenannte Highcare-Betten in Deutschland frei, also die, in denen Corona-Patienten invasiv beatmet werden können, aber wir sehen schon jetzt in den Ballungsräumen große Probleme. Und es kommen immer mehr Corona-Patienten. Diese unmittelbar lebensbedrohlich erkrankten Patienten bekommen dann den Vorzug gegenüber anderen Patienten: So müssen wir bereits jetzt sehr viele Operationen absagen. Und wir müssen an vielen Orten schwer kranke Patienten in andere Kliniken verlegen, weil wir keine Kapazitäten mehr haben. Die Lage wird mit jedem Tag schwieriger für uns.
Wie empfinden Sie das politische Gezerre um bundeseinheitliche Lockdown-Regelungen?
Marx: Jetzt ist keine Zeit für Wahlkampf. Und auch keine Zeit für großes Feilschen an Details. Wir sind jetzt in einer sehr kritischen Phase der Pandemie angekommen. Deutschland befindet sich in einer absoluten Krise. Wir müssen jetzt auch in der Politik von den gewohnten Abläufen abweichen. Die dringende Bitte der deutschen Intensivmediziner lautet, dass dieses Gesetz in der kommenden Woche im Bundestag beschlossen und umgesetzt wird. Man kann danach immer noch einzelne Maßnahmen modifizieren. Jeder Tag mehr bedeutet mehr Infektionen, mehr schwer kranke Menschen und mehr Patienten, die an Corona sterben werden – und mehr Patienten, die schwerer erkranken oder sterben, weil wir so viele Corona-Patienten haben.
Wie ist die Versorgung der anderen Patienten möglich? Meldungen über schwere Unfälle nehmen wieder zu … Marx: Das ist genau unsere Sorge: Natürlich haben wir neben Corona weiterhin sehr viele Menschen, die schwer erkranken oder bei Unfällen schwer verletzt werden, die wir umgehend versorgen müssen. Es gibt Unfallpatienten, Herzinfarkt-Patienten, Patienten mit akutem Bauch und natürlich auch Patienten, die bereits in den Kliniken liegen und deren Zustand sich verschlechtert. All diese Menschen müssen wir auch auf Intensivstationen versorgen. Und hier ist es bereits an vielen großen Klinikstandorten heute schon extrem knapp, zum Beispiel in Köln oder in Bremen. Auch in Thüringen und Sachsen wird es bereits eng in der Intensivversorgung. Selbst in Niedersachsen, wo die Corona-Infektionssituation weniger schlimm ist als in anderen Bundesländern, haben wir bereits mehr Covid-19-Patienten als in der zweiten Welle. Denn erstens liegen die Corona-Patienten ungewöhnlich lange auf den Intensivstationen und zweitens sind diese derzeit etwa 4700 Patienten so eigentlich im Gesundheitssystem gar nicht eingeplant. Überall, wo jetzt ein Covid-19-Patient liegt, müssen wir sehen, wo wir die Notfallpatienten anstatt unterbringen und schicken die OP-Patienten nach Hause.
Wie lange dauert es, bis ein Lockdown die Kliniken zeitversetzt entlastet? Marx: Bevor wir einen Effekt einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes an den Kliniken überhaupt bemerken, werden mindestens weitere 14 Tage vergehen. Und wir wissen bereits heute, dass sich die Situa
weiter in den kommenden zwei Wochen dramatisch zuspitzen wird, denn so lange dauert es, bis viele bereits jetzt infizierte Menschen im Verlauf ihrer Krankheit in den Kliniken aufgenommen werden müssen. Und es ist eben schon jetzt schwierig, freie Intensivbetten für Covid-Patienten wie auch für andere Notfälle zu finden. Die Politik muss jetzt unverzüglich handeln! Das Gesetz muss beschlossen werden, wir brauchen einen harten Lockdown. Wir haben kein Verständnis für Detaildiskussionen, ob eine einzelne Maßnahme sinnvoll ist oder nicht. Wir müssen jetzt eine bundeseinheitliche Lösung durchsetzen. Danach kann man immer noch diskutieren, korrigieren oder verschärfen. Jetzt ist höchste Zeit zu handeln! Jetzt ist Pandemie, jetzt ist Krise. Da muss Pragmatismus walten.
Reicht denn das Gesetz oder steuern wir auf einen viel härteren Lockdown zu, wie Großbritannien und Portugal? Marx: Je länger wir jetzt zögern, desto härter und desto länger wird der Lockdown für Deutschland sein. Denn dann müssen wir noch viel höhere Infektions- und Inzidenzzahlen nach unten bringen. Deshalb ist das jetzige Zögern und Warten einfach absolut unverständlich.
Die Menschen, die jetzt bei Ihnen auf der Intensivstation liegen, haben sich ja bereits vor zwei bis drei Wochen angesteckt. Heißt das, die Kliniken steuern unweigerlich in die Krise?
Marx: Das ist leider so. Die Zahl der Neuaufnahmen ist schon jetzt um ein Drittel im Vergleich zur Vorwoche gestiegen. Wir haben über 600 Neuaufnahmen nur mit Corona, da sind andere Krankheiten und Unfälle noch gar nicht dabei, die zu unserem normalen Alltag gehören. Das Problem verschärft sich zusätzlich dadurch, dass Covid-19-Patienten im Vergleich zu den übrigen Patienten eine sehr lange Liegedauer auf den Intensivstationen haben. Ein Durchschnittspatient liegt fünf bis sechs Tage auf der Intensivstation, bei Covid-19-Patienten liegt der Durchschnitt bei 16 Tagen. Aber jeder vierte Covid-19-Patient liegt sechs Wochen auf der Intensivstation und zehn Prozent sogar länger als zwei Monate. Corona-Patienten brauchen sehr lange unsere Unterstützung.
Was bedeutet das für die Klinken? Marx: Wir stehen bereits kurz davor, dass wir unsere Notfallreserven aktivieren müssen und das bedeutet, dass die Versorgungsqualität nicht nur für Corona-Patienten, sondern auch für alle anderen Intensivpation tienten in Mitleidenschaft gezogen wird. Wir müssen dann auch viele nicht intensiv-medizinische Kräfte in unsere Teams integrieren. Auch diese Kräfte fehlen wieder an anderer Stelle.
Heißt das, dass noch mehr wichtige Operationen verschoben werden? Marx: Die dringenden Notfalloperationen führen wir natürlich durch, aber es müssen auch Operationen verschoben werden, die man nur sehr ungern aufschieben kann. Solche Verschiebungen bedeuten oft eine extreme Belastung für diese Patienten, auch wenn nicht direkt akut
„Dafür fehlt uns Intensivmedizinern jegliches Verständnis.“
Gernot Marx über den Streit der Politik
ihr Leben daran hängt. Es ist nicht schön, zu wissen, einen Krebstumor im Bauch zu haben, der wachsen und streuen könnte, der normalerweise in den nächsten Tagen entfernt würde, aber jetzt in der Pandemie eben nicht. Wir können als Mediziner auch nicht mit Sicherheit ausschließen, dass durch diese Verschiebungen die Therapie am Ende schwieriger wird. Die Menschen leiden auf jeden Fall unter dieser Situation.
Wie erklären Sie sich, dass die Politik trotz der explodierenden Infektionszahlen so langsam auf diese Situation reagiert? Wiegt man sich, je länger man die Pandemie übersteht, in trügerischer Sicherheit?
Marx: Ich bin Mediziner und Wissenschaftler. Ich arbeite und denke sehr faktenbasiert. Ich kann es nicht nachvollziehen. Von den 30000 Menschen, die sich jetzt an einem Tag neu infizieren, werden in zwei Wochen 300 bis 600 auf der Intensivstation liegen, die Hälfte davon beatmet im künstlichen Koma. Nach wie vor stirbt jeder zweite Patient, den wir beatmen müssen. Angesichts dieser Zahlen verstehe ich es überhaupt nicht, dass man über Sinn und Unsinn einer einzelnen Corona-Maßnahme hin und her diskutiert. Dafür fehlt uns Intensivmedizinern jegliches Verständnis, denn es sterben Tag für Tag Patienten bei uns. Und es sterben immer mehr. Es geht jetzt schlicht um Menschenleben.
Gernot Marx, 55, ist Direktor der Kli nik für Operative Intensivmedizin an der Uni Aachen und Präsident der In tensivmedizinerVereinigung DIVI.