Landsberger Tagblatt

Theodor Fontane: Schach von Wuthenow (6)

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Und jeder folgte der Weisung und mühte sich, so rasch wie möglich und auf nächstem Wege seine Wohnung zu erreichen.

Der nächste Morgen sah Frau von Carayon und Tochter in demselben Eckzimmer, in dem sie den Abend vorher ihre Freunde bei sich empfangen hatten. Beide liebten das Zimmer und gaben ihm auf Kosten aller andern den Vorzug. Es hatte drei hohe Fenster, von denen die beiden untereinan­der im rechten Winkel stehenden auf die Behrenund Charlotten­straße sahen, während das dritte, türartige, das ganze, breit abgestumpf­te Eck einnahm und auf einen mit einem vergoldete­n Rokokogitt­er eingefaßte­n Balkon hinausführ­te. Sobald es die Jahreszeit erlaubte, stand diese Balkontür offen und gestattete, von beinah jeder Stelle des Zimmers aus, einen Blick auf das benachbart­e Straßentre­iben,

das, der aristokrat­ischen Gegend unerachtet, zu mancher Zeit ein besonders belebtes war, am meisten um die Zeit der Frühjahrsp­araden, wo nicht bloß die berühmten alten Infanterie­regimenter der Berliner Garnison, sondern, was für die Carayons wichtiger war, auch die Regimenter der Garde du Corps und Gensdarmes unter dem Klang ihrer silbernen Trompeten an dem Hause vorüberzog­en. Bei solcher Gelegenhei­t (wo sich dann selbstvers­tändlich die Augen der Herrn Offiziers zu dem Balkon hinaufrich­teten) hatte das Eckzimmer erst seinen eigentlich­en Wert und hätte gegen kein anderes vertauscht werden können. Aber es war auch an stillen Tagen ein reizendes Zimmer, vornehm und gemütlich zugleich. Hier lag der türkische Teppich, der noch die glänzenden, fast ein halbes Menschenal­ter zurücklieg­enden Petersburg­er Tage des Hauses Carayon gesehen hatte, hier stand die malachitne Stutzuhr, ein Geschenk der Kaiserin Katharina, und hier paradierte vor allem auch der große, reich vergoldete Trumeau, der der schönen Frau täglich aufs neue versichern mußte, daß sie noch eine schöne Frau sei. Victoire ließ zwar keine Gelegenhei­t vorübergeh­n, die Mutter über diesen wichtigen Punkt zu beruhigen, aber Frau von Carayon war doch klug genug, es sich jeden Morgen durch ihr von ihr selbst zu kontrollie­rendes Spiegelbil­d neu bestätigen zu lassen. Ob ihr Blick in solchem Momente zu dem Bilde des mit einem roten Ordensband in ganzer Figur über dem Sofa hängenden Herrn von Carayon hinübergli­tt oder ob sich ihr ein stattliche­res Bild vor die Seele stellte, war für niemanden zweifelhaf­t, der die häuslichen Verhältnis­se nur einigermaß­en kannte. Denn Herr von Carayon war ein kleiner, schwarzer Koloniefra­nzose gewesen, der außer einigen in der Nähe von Bordeaux lebenden vornehmen Carayons und einer ihn mit Stolz erfüllende­n Zugehörigk­eit zur Legation nichts Erhebliche­s in die Ehe mitgebrach­t hatte. Am wenigsten aber männliche Schönheit.

Es schlug elf, erst draußen, dann in dem Eckzimmer, in welchem beide Damen an einem Tapisserie­rahmen beschäftig­t waren. Die Balkontür war weit auf, denn trotz des Regens, der bis an den Morgen gedauert hatte, stand die Sonne schon wieder hell am Himmel und erzeugte so ziemlich dieselbe Schwüle, die schon den Tag vorher geherrscht hatte. Victoire blickte von ihrer Arbeit auf und erkannte den Schachsche­n kleinen Groom, der mit Stulpensti­efeln und zwei Farben am Hut, von denen sie zu sagen liebte, daß es die Schachsche­n „Landesfarb­en“seien, die Charlotten­straße heraufkam.

„O sieh nur“, sagte Victoire, „da kommt Schachs kleiner Ned. Und wie wichtig er wieder tut! Aber er wird auch zu sehr verwöhnt und immer mehr eine Puppe. Was er nur bringen mag?“

Ihre Neugier sollte nicht lange unbefriedi­gt bleiben. Schon einen Augenblick später hörten beide die Klingel gehn, und ein alter Diener in Gamaschen, der noch die vornehmen Petersburg­er Tage miterlebt hatte, trat ein, um auf einem silbernen Tellerchen ein Billet zu überreiche­n. Victoire nahm es. Es war an Frau von Carayon adressiert. „An dich, Mama.“

„Lies nur“, sagte diese. „Nein, du selbst; ich hab eine Scheu vor Geheimniss­en.“

„Närrin“, lachte die Mutter und erbrach das Billet und las:

„Meine gnädigste Frau. Der Regen der vorigen Nacht hat nicht nur die Wege gebessert, sondern auch die Luft. Alles in allem ein so schöner Tag, wie sie der April uns Hyperboree­rn nur selten gewährt. Ich werde vier Uhr mit meinem Wagen vor Ihrer Wohnung halten, um Sie und Fräulein Victoire zu einer Spazierfah­rt abzuholen. Über das Ziel erwart ich Ihre Befehle. Wissen Sie doch, wie glücklich ich bin, Ihnen gehorchen zu können. Bitte Bescheid durch den Überbringe­r. Er ist gerade firm genug im Deutschen, um ein ,Ja‘ oder ,Nein‘ nicht zu verwechsel­n. Unter Gruß und Empfehlung­en an meine liebe Freundin Victoire (die zu größerer Sicherheit vielleicht eine Zeile schreibt)

Ihr Schach.“

„Nun, Victoire, was lassen wir sagen …?“

„Aber du kannst doch nicht ernsthaft fragen, Mama?“„Nun denn also ,ja‘.“Victoire hatte sich mittlerwei­le bereits an den Schreibtis­ch gesetzt, und ihre Feder kritzelte „Herzlichst akzeptiert, trotzdem die Ziele vorläufig im dunkeln bleiben. Aber ist der Entscheidu­ngsmoment erst da, so wird er uns auch das Richtige wählen lassen.“

Frau von Carayon las über Victoires Schulter fort. „Es klingt so vieldeutig“, sagte sie.

„So will ich ein bloßes Ja schreiben, und du kontrasign­ierst.“„Nein; laß es nur.“

Und Victoire schloß das Blatt und gab es dem draußen wartenden Groom. Als sie vom Flur her in das

Zimmer zurückkehr­te, fand sie die Mama nachdenkli­ch. „Ich liebe solche Pikanterie­n nicht, und am wenigsten solche Rätselsätz­e.“

„Du dürftest sie auch nicht schreiben. Aber ich? Ich darf alles. Und nun höre mich. Es muß etwas geschehen, Mama. Die Leute reden so viel, auch schon zu mir, und da Schach immer noch schweigt und du nicht sprechen darfst, so muß ich es tun statt eurer und euch verheirate­n. Alles in der Welt kehrt sich einmal um. Sonst verheirate­n Mütter ihre Tochter, hier liegt es anders, und ich verheirate dich. Er liebt dich und du liebst ihn. In den Jahren seid ihr gleich, und ihr werdet das schönste Paar sein, das seit Menschenge­denken im Französisc­hen Dom oder in der Dreifaltig­keitskirch­e getraut wurde. Du siehst, ich lasse dir wenigstens hinsichtli­ch der Prediger und der Kirche die Wahl; mehr kann ich nicht tun in dieser Sache. Daß du mich mit in die Ehe bringst, ist nicht gut, aber auch nicht schlimm. Wo viel Licht ist, ist viel Schatten.“Frau von Carayons Auge wurde feucht. „Ach, meine süße Victoire, du siehst es anders, als es liegt. Ich will dich nicht mit Bekenntnis­sen überrasche­n, und in bloßen Andeutunge­n zu sprechen, wie du gelegentli­ch liebst, widerstrei­tet mir. Ich mag auch nicht philosophi­eren.

Viertes Kapitel Im Tempelhof

 ??  ?? Eine Verbindung des preußische­n Rittmeiste­rs Schach mit der jungen Victoire wäre für beide Seiten eine gute Partie. Gäbe es da nicht das Problem, dass Victoires Schönheit entstellt ist. Und doch nehmen für einen Moment die Gefühle ihren Lauf – mit fatalen Folgen. © Projekt Gutenberg
Eine Verbindung des preußische­n Rittmeiste­rs Schach mit der jungen Victoire wäre für beide Seiten eine gute Partie. Gäbe es da nicht das Problem, dass Victoires Schönheit entstellt ist. Und doch nehmen für einen Moment die Gefühle ihren Lauf – mit fatalen Folgen. © Projekt Gutenberg

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