Vom Zauber der Zeitung
In einem kleinen Bilderbuch erzählen eine Autorin und ein Illustrator eine großartige Geschichte. Die eines „Blattes“. Es ist eine Liebeserklärung ans gedruckte Wort. Welche Anziehungskraft Zeitungen ausüben können
Schon als kleiner Junge habe ich Zeitungen angesehen. Lesen konnte ich ja nicht. Sie waren für mich das Tor zur Welt der Erwachsenen. Es musste etwas Geheimnisvolles sein, etwas Mächtiges, dass sie so in die Zeitung hineinsog. Still werden lies.
Ich sehe Zeitungen heute noch gerne an. Be-greife sie. Rieche an ihnen. In welches Land ich auch reise, die Zeitungsständer an den Kiosken ziehen mich magisch an. Wie oft kaufte ich mir Zeitungen, nur um sie durchzublättern. Lesen konnte ich sie ja nicht: französische, niederländische, norwegische, spanische, chinesische. Welche Schrifttypen verwendeten sie, welche Bilder druckten sie? Vor allem die britischen Zeitungen fand ich immer besonders, weil sie Schrift anders einsetzen. Grafisch, groß.
Seitdem ich lesen kann, lese ich in der Zeitung. In der Rhön- und Saalepost und in der Main-Post, den Zeitungen meiner Heimatstadt. Im Ferienjob in der Fabrik las ich die Bild, weil jeder sie las in der Mittagspause. Im Studium las ich die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, die taz, Die Zeit, Die Welt – auch weil ich, im Rückblick, so viel Zeit wie nie mehr in meinem Leben dazu hatte; weil auch die große Welt näher an mich gerückt war; auch weil Studenten eben über das Große und Ganze diskutieren (und weil vor der Mensa immer ProbeAbos angeboten wurden).
Ich las auch im Internet. Also, ich versuchte es. In den Kindertagen des Internets bereitete einem dieses Netz ein zweifelhaftes Vergnügen, und im Unterschied zum gedruckten Wort ist das digitale kaum begreif- oder riechbar. Außer man putzt den Staub vom Monitor. Oder irgendetwas im PC beginnt zu kokeln. Das Internet allerdings hatte einen Sound, den meines giftgrünen 14,4K Modems. Es ratterte, rauschte, piepte. Während ich darauf wartete, dass sich die Seite von Spiegel Online aufbaute, stellte ich die Kaffeemaschine an und blätterte dabei manchmal im Fränkischen Tag.
Noch heute ist es ein gutes Gefühl, eine frisch gedruckte Zeitung – die Augsburger Allgemeine oder eines ihrer Heimatblätter, die Allgäuer Zeitung – in Händen zu halten. Nennen Sie mich ruhig einen hoffnungslosen Romantiker, einen Nostalgiker, was immer! Dieser Geruch. „Druckfrisch“. Wenn die Farbe sich noch verwischen lässt, wenn man mit den Fingern über eine Seite fährt. (Und das ist ein durch und durch andersartiges Wischen als auf dem Smartphone.)
Ich finde sie faszinierend, die Welt der Zeitung. Wenn ich bisweilen nachts die Redaktion verlasse, sehe ich die Kleintransporter, wie sie zur Druckerei eilen, wie sie vollgeladen werden mit Zeitungsstapeln, wie sie wegfahren, um die Zeitung bis nach Südtirol zu bringen. Sie fahren schnell, so, als ob es keine Zeit zu verlieren gäbe. (Was ja stimmt und doch nicht. Denn jede digitale Nachricht erreicht schneller ihre Leser als die gedruckte.)
José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez erzählen von der Welt der gedruckten Zeitung in einem Bilderbuch für Kinder – und Erwachsene wie mich. Die Illustrationen des kolumbianischen Illustrators und der Text der argentinischen Grafikdesignerin und Autorin, an dem Sanabria ebenfalls arbeitete, sind voller Poesie. Die beiden erzählen in wenigen Bildern und knappen Sätzen die Geschichte einer Zeitung – nein, die Zeitung erzählt ihre Geschichte selbst. Wie sie in einer Druckerei geboren wurde und dann ihren Weg hinaus in die Welt findet, hinaus zu den Lesern. Zu ei- ner trübseligen Frau, zu einer Mutter, zu einem Jungen, zu einem Paar. (Wie sich eine Zeitung dabei fühlen mag, darüber habe ich mir bislang keine Gedanken gemacht.) „Ein Blatt im Wind“heißt das Buch, es ist eine Liebeserklärung an die Zeitung.
José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez muss es wie mir gehen. Mir geht’s wie in Tucholskys „Gebet des Zeitungslesers“:
„Wo nur eine Zeitung ist, da trabe / ich hin – aus Gier / nach Papier – immer nach Papier – / bleib auf der Straße stehn / und lese hier: ...“
„Die eine Zeitung“, über die Ignaz Wrobel alias Kurt Tucholsky schrieb, und an der ich mich satt hätte sehen und lesen können, gab es für mich dabei nie. „Das Malheur ist nicht, dass die Leute Zeitungen lesen. Das Malheur ist, dass sie meist nur eine Zeitung lesen. Ihr Blatt. Das Blatt“, schrieb er 1922, und mit der Realität fast hundert Jahre später lässt sich das kaum mehr und zugleich unverändert in Deckung bringen. 2019 wäre ich als Journalist, als Zeitungsmacher, froh, wenn noch jeder „meist nur eine Zeitung lesen“würde. Längst liest man dies und das, hier und da, auf Smartphone oder Tablet-PC. Die Zeitung gilt manchem als Altpapier. Doch zugleich, scheint mir, lesen nicht wenige – und zwar nur noch das, was ihre Sicht auf die Welt bestätigt. Von Tucholsky (als Kaspar Hauser) stammt der in vielerlei Hinsicht zutreffende Satz: „Wir leben in einer merkwürdigen Zeitung –!“
Ja, die Zeit(ung)! Wissen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, woran ich mich noch erfreue? Wenn ich Sie beim Zeitunglesen beobachten kann. In der Bahn, im Wartezimmer beim Arzt. Halten Sie mich ruhig für eitel, aber es ist ein seltsam-zufriedenstellendes Gefühl, wenn ich sehe, wie Sie einen Artikel von mir lesen. (Es sei denn, Sie blättern gleich weiter. Oder ärgern sich.)
Wie „Ein Blatt im Wind“endet, will ich Ihnen nicht verraten. Sehen und lesen Sie selbst. Die jahrhundertealte Geschichte der Zeitung jedoch wird noch lange fortgeschrieben werden, da bin ich mir sicher.