„Wohnungsnot trifft längst die Mitte der Gesellschaft“
Interview Der steigende Bedarf an bezahlbaren Wohnungen ist kein Großstadtphänomen, betont der Präsident des Deutschen Caritasverbandes. Anders als die CDU-Generalsekretärin sieht er die Lösung nicht allein in einem freien Markt. Nur neu zu bauen helfe ni
Herr Neher, Sie sind Präsident des Deutschen Caritasverbandes. Die Wohnungsnot wird als eines der drängendsten Probleme bezeichnet – aber ist sie nicht nur ein Großstadtphänomen? Peter Neher: Nein, Wohnungsnot ist nicht nur ein Großstadtphänomen. Not an bezahlbaren Wohnungen gibt es beispielsweise auch in meiner Heimat im Ostallgäu. Es sind vor allem Boomregionen betroffen. Dort trifft es dann auch die Menschen in Kleinstädten und im ländlichen Raum.
Sorgen Sie sich vor allem um die Geringverdiener?
Neher: Nicht nur! Längst trifft die Wohnungsnot die Mitte der Gesellschaft. Geringverdiener sind ja leider schon seit vielen Jahren nahezu chancenlos auf dem Wohnungsmarkt, da der soziale Wohnungsbau vollkommen zum Erliegen gekommen ist. 1987 hatten wir noch 3,9 Millionen Sozialwohnungen in Deutschland – 2015 waren es nur noch 1,3 Millionen. Mittlerweile finden aber auch immer mehr Menschen mit mittleren Einkommen keine bezahlbaren Wohnungen mehr – Polizisten etwa, Krankenschwester, Pfleger. Oftmals müssen sie mehr als ein Drittel ihres Einkommens für Miete und Wohnkosten aufbringen. Ganz besonders hart trifft es Familien. Daher haben wir als Caritas die Wohnungsnot unter dem Motto „Jeder Mensch braucht ein Zuhause“zu unserem Jahresthema gemacht. Nun verspricht die Kanzlerin in den nächsten drei Jahren 1,5 Millionen neue Wohnungen. Reicht das?
Neher: Es hört sich zunächst gut an. Aber entscheidend wird sein, wie viele Sozialwohnungen entstehen.
Wie viele müssten es denn sein? Neher: Der Bedarf an Sozialwohnungen wird auf rund 120000 im Jahr geschätzt. Das heißt, von den 1,5 Millionen neuen Wohnungen müssten mindestens 360000 mit Sozialbindung sein. Denn man darf nicht vergessen, dass 40 000 bis 60 000 Wohnungen jährlich aus der Sozialbindung herausfallen. Und diese 1,5 Millionen Wohnungen fallen ja nicht vom Himmel. Wir wissen, dass die Bauwirtschaft längst am Limit ihrer Leistungsfähigkeit ist. Hinzu kommt: Wo sollen die Grundstücke herkommen? Das heißt, ich frage mich, ob 1,5 Millionen neue Wohnungen in drei Jahren überhaupt realisierbar sind. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es. Und haben Sie schon die aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung gesehen?
Sie besagt, dass Wohngeld, Mietpreisbremse und sozialer Wohnungsbau nur bedingt das Problem lösen.
Neher: Und, dass es allein in den zehn größten deutschen Städten ein Defizit von rund 880000 günstigen Wohnungen gibt. Gebaut werden aber nur rund 4700 pro Jahr. Bliebe die Förderung so, wie sie ist, würde es mehr als 185 Jahre dauern, bis die Lücke geschlossen ist. Sozialwohnungen würden aber vielen Menschen mit mittleren Einkommen nicht helfen, weil sie keine Berechtigung für eine Sozialwohnung haben. Neher: Das stimmt. Daher fordern wir ja stets vor allem mehr bezahlbare Wohnungen und natürlich mehr Sozialwohnungen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie betrifft Bund, Länder und Kommunen genauso, wie Wohnungsgesellschaften und private Vermieter.
Und wie soll das gelingen?
Neher: Was wir sehen ist, mangels lukrativer Anlagemöglichkeiten, eine Flucht des Kapitals in Immobilien. Und investiert wird dort, wo die höchsten Renditen erwirtschaf- tet werden, im Hochpreissegment. Daher hilft es aus unserer Sicht nicht, nur neu zu bauen. Entscheidend sind bezahlbare Mieten.
Die SPD fordert unter dem Schlagwort „Mietenstopp“, dass in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt die Mieten nur in Höhe der Inflationsrate steigen dürfen. Ein guter Vorstoß? Neher: Ich bin skeptisch. Es muss darauf geachtet werden, Instrumente zu finden, damit einerseits die Mieten nicht zu stark steigen, andererseits aber die Investoren nicht abgeschreckt werden. Ich halte den Vorschlag der Bundesregierung für sinnvoll, die Modernisierungsumlage zu kürzen. Das ist ein Beitrag dafür, dass einkommensschwache Mieter nicht so einfach aus ihren angestammten Quartieren verdrängt werden können. Die Modernisierungsumlage wird ja oft dazu genutzt, Wohnungen auf Luxusniveau zu sanieren und damit dramatische Mietsteigerungen durchzusetzen. Und ich finde, dass die Mietpreisbremse ein gutes Instrument sein kann.
Sie hat aber doch offensichtlich versagt und läuft nun Schritt für Schritt aus. Neher: Aber genau das halte ich für falsch. Die Mietpreisbremse wurde vielerorts nicht konsequent umgesetzt. Außerdem gehört zwingend das Recht auf Transparenz dazu. Das heißt, ich muss als Mieter erfahren können, was mein Vormieter bezahlt hat. Sonst kann ich mich doch gar nicht wehren. Man darf nicht vergessen: Wohnen ist Menschenrecht. Die Politik hat über Jahre das Thema bezahlbare Wohnungen sträflich vernachlässigt.
Jetzt legt die Politik ja nach und will mit einem steuerlichen Sonderbonus dafür sorgen, dass private Investoren mehr bezahlbare neue Mietwohnungen schaffen. Was halten Sie davon? Neher: Das ist ein wichtiger Beitrag. Denn tatsächlich fehlen Sonderabschreibungen, wenn bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird.
Was fordern Sie noch von der Politik? Neher: Mir ist sehr wichtig, dass das Wohngeld dynamisiert und erhöht wird, damit nicht mehr Menschen in Hartz IV fallen. Und die Obergrenzen müssten niedriger werden, damit mehr Menschen Wohngeld erhalten.
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer hat aber erklärt, die Wohnungsnot mit den Mitteln des freien Marktes bekämpfen zu wollen. Neher: Also über diese Aussage kann ich mich nur wundern. Wir sehen doch gerade, was passiert, wenn man den Wohnungsmarkt dem freien Spiel des Marktes überlässt: Es herrscht eine eklatante Not an bezahlbaren Wohnungen. Die Politik hat genau das seit Jahren bedauerlicherweise getan: Sie hat sich aus dem sozialen Wohnungsbau so gut wie komplett zurückgezogen und den Wohnungsmarkt einseitig der Immobilien- und Baubranche überlassen.
Die Menschen werden immer älter und wollen gerne in ihrer Wohnung bleiben. Müssten nicht auch viel mehr barrierefreie Wohnungen geschaffen werden? Neher: Da gebe ich Ihnen völlig recht. Wir bräuchten viel mehr steuerliche Anreize und Zuschüsse für den Bau von barrierefreiem Wohnraum, beziehungsweise für die Sanierung mit diesem Ziel. Das ist vor allem auch Sache der Kommunen. Ganz wichtig finde ich, dass hier innovative Lösungen ausprobiert werden, zum Beispiel das Tauschen von Wohnungen. Es gibt viele ältere Menschen, die nach dem Tod der Partnerin oder des Partners, oder dem Wegzug der Kinder allein in großen Wohnungen oder Häusern leben. Familien hingegen suchen verzweifelt größere Wohnungen. Hier könnten Kommunen als Vermittler tätig werden, um Wohnraum besser zu verteilen.
OVeranstaltung Am 25. September veranstaltet die Caritas der Diözese Augsburg eine Podiumsdiskussion zum Thema Wohnungsnot im Haus Sankt Ulrich in Augsburg. Beginn 19 Uhr.
Peter Neher, 63, ist pro movierter Theologe. Seit 2003 ist der frühere Pfarrer Präsident des Deutschen Caritasverbandes.