Sind die Täter in Freiheit?
Offener Brief Der Bruder der 1981 entführten und erstickten Ursula Herrmann aus Eching erhebt Vorwürfe gegen die Justiz
Augsburg/Eching Michael Herrmann, der Bruder der 1981 entführten und in einer im Wald zwischen Eching und Schondorf vergrabenen Holzkiste erstickten Schülerin Ursula Herrmann, erhebt schwere Vorwürfe gegen die bayerische Justiz. Dazu hat er jetzt einen offenen Brief verfasst – kurz bevor am 2. August das Urteil in einem von ihm angestrengten Zivilprozess gegen den als Herrmann-Entführer verurteilten Werner Mazurek am Landgericht Augsburg verkündet werden soll. In dem Prozess geht es darum, ob Mazurek Herrmann Schmerzensgeld zahlen muss. Denn der Bruder von Ursula Herrmann leidet an Tinnitus, den er in Verbindung mit dem damaligen Strafprozess bringt. Herrmann klagt einerseits auf Schmerzensgeld, seit Jahren treibt ihn aber auch die Frage um, ob der wirkliche Täter hinter Gittern sitzt, und ihm geht es auch um eine neue Beweisaufnahme im Strafprozess.
Seine Zweifel beruhen vor allem auf zwei Punkten: Da ist zum einen das Indiz Tonbandgerät TK 248 und die darauf abgespielte Bayern3-Verkehrsfunk-Melodie: „Mich hat das als Musiker mit Tonstudio-Erfahrung verwundert, denn ich weiß, dass sich sehr viele audioakustische Parameter nicht zurückverfolgen lassen. Ich wollte Näheres über dieses Indiz und diesen Mann wissen und entschloss mich, als Nebenklagevertreter für meine Familie in den Prozess einzusteigen. Mit der Akteneinsicht wurden meine Zweifel an der Schuld des Angeklagten nicht unbedingt kleiner. Ich musste miterleben, wie ein einseitiges und unvollständiges Gutachten zu einem alten Tonbandgerät zur lebenslänglichen Verurteilung des Mannes führte. Über zwingend beteiligte Mittäter wurde gar nicht nachgedacht.“Zweifel hat Herrmann auch an dem Geständnis eines labilen Alkoholikers, der behauptete, das Loch für die Kiste gegraben zu haben, aber diese Aussage Stunden später widerrief. Trotzdem sei dieser Mann – er starb bereits in den 1990er-Jahren – zur zweiten Säule des Urteils geworden.
Seine Verwunderung über dieses Urteil habe ihn nicht losgelassen, schreibt Herrmann. Ein halbes Jahr später habe ihn ein chronischer Tinnitus zu quälen begonnen. 2012 habe er sich nach erfolglosen Therapieversuchen zu einer Zivilklage gegen den verurteilten Entführer entschlossen: „Ich hoffte, den Tinnitus zur Ruhe zu bringen, wenn ein unabhängiges Gericht das für mich fragwürdige Urteil noch einmal prüfen würde.“
An dem von ihm 2012 angestrengten Zivilprozess kritisiert Herrmann vor allem die lange Dauer: „Offensichtlich ging es dem Gericht nur um eines: Zeitgewinn. Die Beweisaufnahme begann erst im Herbst 2017.“Und Herrmann fragt weiter: „Kann es sein, dass der Augsburger Justiz nicht an wirklicher Aufklärung des Todes meiner kleinen Schwester gelegen ist? Die Details und das dürftige Ergebnis des Strafverfahrens und die schleppende Prozessführung des Zivilverfahrens legen diesen Schluss nahe. Vieles spricht dafür, dass ein Unschuldiger seit zehn Jahren im Gefängnis sitzt.“Herrmann schlussfolgert denn auch daraus: „Die Menschen, die den Tod meiner Schwester zu verantworten haben, leben in Freiheit. Damit will ich mich nicht abfinden. Für mich mehren sich Hinweise auf einen anderen, bisher nur mangelhaft untersuchten Täterkreis.“
Augsburg Der Bruder der 1981 am Ammersee entführten und in einer Kiste erstickten Ursula Herrmann erhebt schwere Vorwürfe gegen die bayerische Justiz. In einem offenen Brief schreibt Michael Herrmann: „Vieles spricht dafür, dass ein Unschuldiger seit zehn Jahren im Gefängnis sitzt. Die Menschen, die den Tod meiner Schwester zu verantworten haben, leben in Freiheit.“
Hintergrund ist ein seit Jahren laufender Zivilprozess. Herrmann hat den verurteilten Entführer seiner Schwester auf Schmerzensgeld verklagt. Möglicherweise fällt kommenden Donnerstag das Urteil. Michael Herrmann ist mit dem Verlauf des Verfahrens aber sehr unzufrieden: Er wirft der 10. Zivilkammer des Landgerichts Augsburg mangelnden Aufklärungswillen vor.
Der Fall Ursula gilt als einer der spektakulärsten Kriminalfälle. Am 15. September 1981 wurde das zehnjährige Mädchen in einem Waldstück entführt und in eine eigens gebaute Holzkiste gesperrt. Die Kiste wurde im Wald vergraben. Ursula erstickte. Jahrzehntelang blieben die Ermittlungen erfolglos. Doch 2008 wurde in Norddeutschland auf einmal Werner Mazurek verhaftet. Er hatte lange am Ammersee gelebt. 2010 wurde Mazurek in einem Indizienprozess am Landgericht Augsburg wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil. Doch Mazurek bestreitet bis heute, Ursulas Entführer zu sein.
Ursulas Bruder hatte schon damals Zweifel an dem Urteil. Als Nebenkläger hatte er Akteneinsicht genommen. Die beiden tragenden Säulen des Urteils überzeugten ihn nicht: Ein Tonbandgerät vom Typ Grundig TK 248, das bei Mazurek gefunden worden war und mit dem die Erpresseranrufe hergestellt worden sein sollen. Und das später widerrufene Geständnis eines Alkoholikers, im Auftrag Mazureks ein Loch im Wald gegraben zu haben. Ein halbes Jahr nach dem Urteil begann ein Tinnitus, Michael Herrmann zu quälen. Er entschloss sich zu der Schmerzensgeldklage über 20 000 Euro. Er wollte, dass sich noch einmal ein Gericht mit den Fragen befasst, die ihn umtreiben. 2013 reichte er mit seinem Anwalt Joachim Feller die Klage ein. Er hoffte, durch ein neues Urteil bis 2015 mit dem Tod seiner Schwester endgültig abschließen zu können.
Doch es kam anders. Nun kritisiert Herrmann, dass er sich einer psychiatrischen Begutachtung unterziehen musste, weil das Gericht Zweifel hatte, dass der Tinnitus eine Folge des Strafverfahrens ist. Auch die neuerliche Befragung einer Gutachterin des Landeskriminalamts zum Tonbandgerät überzeugte Herrmann nicht. „Kann es sein, dass der Augsburger Justiz nicht an wirklicher Aufklärung des Falles Ursula Herrmann ... gelegen ist?“, fragt er. Am kommenden Donnerstag hat Herrmann Geburtstag. Er erwarte vom Gericht kein Geburtstagsgeschenk. Aber wenn die Kammer den sprichwörtlichen „Deckel auf die Kiste“machen wolle, solle sie wissen, „dass sich die Wahrheit nicht einsperren lässt“.