72 Zentimeter fehlen
Johannes Vetter verpasst nur knapp den Weltrekord
Frankfurt/Main Die Bedeutung seines phänomenalen Speerwurfes in der Leichtathletik-Geschichte erklärte Johannes Vetter mit einem Beispiel aus dem Fußball. „Das ist, als wenn Nationalspieler Toni Kroos einen Freistoß aus 30 Metern über die Mauer direkt in den Winkel hämmert“, sagte der 27-Jährige nach seinem 97,76 Meter weiten Superwurf im polnischen Chorzow. „Es war ein hoher Grad an Perfektionismus, den man so gut wie nie erreicht.“
Allein Weltrekordler Jan Zelezny aus Tschechien drosch den Speer jemals weiter – vor 27 Jahren in Jena auf 98,48 Meter. „Im ersten Moment dachte ich, mehr als 97 Meter, echt Wahnsinn und danach, schade, knapp am Weltrekord vorbei“, berichtete Vetter. „Und im dritten Moment kam mir der Gedanke, du hast Sportgeschichte geschrieben.“Um 3,32 Meter steigerte er seinen deutschen Rekord von 2017, nur 72 Zentimeter fehlten an der ZeleznyBestmarke. Noch viel weiter als Zelezny – nämlich auf 104,80 Meter – hatte 1984 der Potsdamer Uwe Hohn den Speer in Berlin geworfen. Nach diesem Extremwurf wurden die Regeln geändert. Aus Sicherheitsgründen führte der Weltverband 1986 den noch jetzt genutzten Speer mit verändertem Schwerpunkt ein, der ein schnelleres Absinken des Fluggerätes bewirkt. Leistungssprünge seien in der technisch hoch komplizierten Sportart von 82 auf 85 oder 85 auf 88 Meter nicht selten, „aber von 94 auf knapp 98 Meter ist das in dieser Dimension enorm“, befand Vetter. „Es war nahezu der perfekte Wurf“, sagte der Weltmeister von 2017 und Olympia-Vierte von 2016. „Es kann sein, dass ich nie wieder über 97 Meter werfe oder über den Weltrekord – oder es rutscht mal einer raus und geht über 100 Meter“, sagte Vetter und spekulierte: „Wenn es ein offenes Stadion mit ähnlichem Wind wie 1996 bei Zeleznys Rekord gegeben hätte, wäre das Ding mit hoher Wahrscheinlichkeit über 100 Meter gegangen.“
Für Bundestrainer Boris Obergföll, der auch sein Heimcoach ist, waren schon die 97,76 Meter eine große Überraschung. „Das war mal eine Ansage. Im Augenblick wirft er in seiner eigenen Sphäre“, meinte er. Bereits beim Meeting im finnischen Turku hatte Vetter mit 91,49 Meter so weit wie kein anderer in 2020 geworfen. „Wenige Tage nach dem ursprünglich geplanten Olympia-Finale“, stellte Obergföll bedauernd fest.