Risikogruppe im Klassenzimmer
Tausende Lehrer sind über 60 und durch das Virus besonders gefährdet. Bald sollen auch sie zurück in die Schulen
München Martin Hann ist der älteste Lehrer an seiner Schule. Er ist 65 Jahre alt, also Corona-Risikogruppe. Als das Wilhelmsgymnasium im Münchner Stadtteil Lehel Ende April wieder die Tore öffnete, ging Hann trotzdem sofort wieder ins Klassenzimmer. Angst vor dem Virus hat er nicht. „Ich bin Segelflieger, da werde ich regelmäßig ärztlich untersucht“, sagt der Philosophie-, Deutsch- und Religionslehrer. Belastungs-EKG des Herzens, die Lunge – alles in Ordnung. „Ich fühle mich nicht mehr gefährdet als andere.“Doch Hann kennt Kollegen in seinem Alter, bei denen das anders ist. Sie meiden das Schulgebäude, so lange es geht. Bisher steht es älteren Lehrern frei, ob sie in der Schule unterrichten oder weiter von zu Hause aus. Denn noch lernt auch ein großer Teil der bayerischen Schüler vor allem übers Internet.
Nach Pfingsten aber sollen alle Schüler in ihre Klassenzimmer zurückkehren. Dann werden auch die Lehrer über 60 Jahre dort gebraucht, wie eine Sprecherin des Kultusministeriums bestätigt. Für „Lehrer aller Altersgruppen“sei dann „ein Unterrichtseinsatz im Präsenzbetrieb vorgesehen“.
Das Kultusministerium macht zwei Ausnahmen bei der Dienstpflicht: Stellt ein Arzt bei einem Lehrer eine „besondere individuelle Gefährdungslage“durch Covid-19 fest, muss er weder Unterricht im Klassenzimmer halten noch die Notbetreuung für die Kinder „systemrelevanter“Eltern übernehmen, die an den Schulen beaufsichtigt werden. Fühlt sich eine Lehrkraft über 60 Jahre „sehr gefährdet“durch das Virus, kann sie mit der Schulleitung ebenfalls eine Befreiung vereinbaren.
Die Schwierigkeit daran: Der Lehrermangel, der vor allem an Grund-, Mittel- und Förderschulen schon vor der Krise ein Problem war, verschärft sich jetzt. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband hat ausgerechnet, dass zwölf Prozent der Lehrer im Freistaat über 60 Jahre alt sind, etwa 18500. Zudem schätzt der Verband, dass insgesamt jeder dritte Lehrer einer Risikogruppe angehört. Bleiben viele dieser Leute zu Hause, geraten ihre Kollegen an den Schulen ins Rotieren. Weil Klassen geteilt werden müssen, reicht eine Lehrkraft pro Klasse oft nicht mehr aus.
Um den Lehrermangel aufzufangen, hatte Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) Anfang des Jahres eine ganze Reihe Pläne gefasst. Unter anderem sollen Lehrer an betroffenen Schularten eine Wochenstunde mehr arbeiten, Teilzeitkräfte sollen aufstocken. Dazu verschickte das Ministerium Briefe an mehr als 8000 bereits pensionierte Lehrer und bat sie um eine Rückkehr in den Schuldienst. Die Aktion begann vor dem Höhepunkt der Corona-Pandemie. Doch dann verbreitete sich das Virus – und ebenso schnell Fassungslosigkeit über die Idee des Ministeriums. Nicht nur wegen der Gesundheitsgefahr, sondern auch aus Pietätsgründen.
Eine Anfrage des Landtagsabgeordneten Max Deisenhofer von den Grünen hat ergeben, dass 94 der Briefe an bereits verstorbene Lehrer verschickt wurden. „Nicht mal im Grab hat man Ruhe vor dem Kultusministerium“, so habe ein befreundeter Lehrer diese Nachricht kommentiert, erzählt der schwäbische Bildungsexperte. Er selbst findet die Sache „gar nicht witzig“. In der Antwort, die unserer Redaktion vorliegt, begründet das Ministerium seinen Fauxpas damit, dass auch Hinterbliebene eines verbeamteten Lehrers unter dessen Namen Versorgungsbezüge erhalten. „Bei der ersten Auswertung der Adressen“sei das nicht bemerkt worden. „Daher wurden bedauerlicherweise Briefe auch an verstorbene Lehrkräfte gerichtet.“
Deisenhofer hält es generell für „sehr unglücklich, mitten in Corona-Zeiten die Risikogruppe der Pensionisten anzuschreiben“. Für coronagefährdete Lehrer, die noch regulär im Dienst sind, hat die größte Oppositionspartei im Landtag eine klare Forderung: „Wir Grüne finden, dass Lehrkräfte aus Risikogruppen nur freiwillig in den Präsenzunterricht gehen sollten.“Diese Regelung müsse auch gelten, wenn es Personen aus Risikogruppen im Haushalt einer Lehrkraft gebe. Die Lücken in der Personalversorgung sollen nach dem Willen der Grünen mit Einsparungen beim Schulstoff ausgeglichen werden.
Der Münchner Lehrer Martin Hann unterrichtet gerade so viel wie lange nicht. Er hat noch eine elfte und eine fünfte Klasse zusätzlich übernommen, weil anderen Lehrern vom Arzt Schulverbot erteilt wurde. „Ich mache das nicht aus Pflichtgefühl, sondern zu meiner eigenen Freude und der der Schüler“, sagt er. Seine Kollegen würden sich schon fragen, wie es älteren Kollegen in Zeiten des Virus geht. „Aber der Fokus ist ganz klar auf den Schülern. Unser Ziel ist, dass die Kinder sich gut fühlen.“Und das täten sie. „Sie freuen sich richtig auf den Unterricht.“Dem Philosophielehrer selbst geht es genauso: „Die wahre Erkenntnis kommt im Streitgespräch. Und das kann man nicht online machen.“
Lehrer, die wegen Corona eine Schulbefreiung haben, sind im Übrigen trotzdem „verpflichtet, Dienst zu leisten“, betont eine Sprecherin von Kultusminister Michael Piazolo. Demnach helfen sie weiter Schülern beim Lernen daheim, übernehmen Korrektur- und Verwaltungsaufgaben und können auch anderweitig eingesetzt werden. Als die Schulen ganz geschlossen waren, hatten beispielsweise mehrere hundert Lehrer die bayerischen Gesundheitsämter beim Telefondienst unterstützt.