Gefangen in der Gewalt
Es gibt sie in allen Schichten: Übergriffe auf Kinder und Frauen. Die Opfer erleben Belästigungen, Missbrauch, Vergewaltigungen. Wie gehen Mädchen mit solchen Erlebnissen um und wie kann man ihnen helfen?
Ein Blick, ein aufdringlicher Kommentar, ein unangenehmes Hinterherpfeifen, ein anzügliches Foto, das auf das Smartphone geschickt wird… Sexualisierte Gewalt fängt oft im Kleinen an – und bleibt folgenlos. Denn in den meisten Fällen gibt es für die Täter und Täterinnen keine strafrechtlichen Konsequenzen, sagen Anna-Lena Zech und Sophie Binck anlässlich des heutigen Welt-Mädchentages.
Die beiden Frauen arbeiten für Wildwasser Augsburg, die Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen. Sie sagen: Viele denken bei sexualisierter Gewalt an ein Mädchen, das in einem dunklen Tunnel vergewaltigt wird. Aber sexualisierte Gewalt sei überall. Mädchen und Frauen aus allen sozialen Schichten, aus allen Familien können zum Opfer werden. „Jeder Fall ist anders, jedes Mädchen hat etwas anderes erlebt.“Aber es gebe bestimmte Muster, mit denen Zech und Binck in ähnlicher Form immer wieder zu tun haben.
Da ist die Tochter, die als Kind jahrelang vom Vater sexuell missbraucht wird. Die Freundin, die auf einer Party mit einem Jungen herumknutscht und doch mehr passiert. Oder das Mädchen, das beim Sport vom Lehrer oder dem Trainer angefasst wird. Wie gehen Mädchen mit solchen schrecklichen Erlebnissen um?
Die Folgen für die Betroffenen können unterschiedlich sein, erklärt Anna-Lena Zech. Manche Mädchen entwickeln eine Essstörung, manche verletzen sich, um sich selbst wieder zu spüren. Andere leiden unter Konzentrations- oder Schlafstörungen. Es gibt Mädchen, die vorher sehr offen waren, die nach dem Übergriff introvertiert werden. Mädchen, die ausgeglichen waren, plötzlich total aggressiv sind. „Aber nahezu alle kämpfen mit dem gleichen Problem“, sagt Zech – und zwar damit, wieder Vertrauen zu anderen Menschen zuzulassen.
„Die meisten assoziieren mit sexualisierter Gewalt eine Tat, die im Affekt passiert“, fügt Sophie Binck, Geschäftsführerin bei Wildwasser, hinzu, „aber das stimmt nicht.“Sexualisierte Gewalt ist in den meisten Fällen geplant. Die Täter und Täterinnen verfolgten eine perfide Strategie, vor allem bei Kindern. Die Mädchen würden manipuliert, mit Komplimenten umschmeichelt, es werde immer mehr Vertrauen zwischen Täter und Opfer aufgebaut, berichten Zech und Binck. Und irgendwann kommt es zur Tat und das Vertrauen wird ausgenutzt und zerstört. „Sexualisierte Gewalt hat auch immer etwas mit Machtmissbrauch zu tun. Solche Taten passieren immer in einem Gefälle, niemals zwischen zwei Gleichstarken.“Etwa zwischen einem Erwachsenen und einem Kind, zwischen Mann und Frau, zwischen Ausbilder und Auszubildender.
Auch nach der Tat verfolgen die Täter laut Auskunft der Expertinnen eine manipulative Strategie und reden den Betroffenen Schuldgefühle ein. Sie sagen zum Beispiel: „Du wolltest das doch auch“oder „Wenn du das erzählst, dann ist die Mama traurig oder dann muss der Papa ins Gefängnis“. Darüber hinaus haben die Betroffenen auch mit großer Scham zu kämpfen. „Sexualität ist so intim. Und dann erlebt man etwas derart Schlimmes und muss auch noch darüber sprechen.“
Problematisch werden solche Gespräche, wenn die Mädchen sehr jung sind. „Ein vierjähriges Kind kennt keine Worte für Sexualität oder Geschlechtsverkehr“, sagt Anna-Lena Zech. „Es ist einfach sprachlos, ihm fehlen tatsächlich die Worte.“Manche Mädchen verdrängen die Erlebnisse so sehr, dass sie sich Jahre, manchmal Jahrzehnte gar nicht erinnern können. „Es kommen Frauen mit 40 oder 50, weil sie alles verdrängt haben und erst durch einen Auslöser die Erinnerung wieder hochkommt.“Oder Mädchen, die den Druck irgendwann nicht mehr aushalten und der Mama oder der besten Freundin alles erzählen.
Jeder Fall, den Anna-Lena Zech und ihre Kolleginnen beraten, ist anders – und genauso verarbeitet jeund des Mädchen und jede Frau das Erlebte auf ihre eigene Weise. Viele Mädchen machen eine Therapie, gehen zu Beratungsgesprächen, suchen Unterstützung in Selbsthilfegruppen. Anderen genügt der Rückhalt aus der Familie. Viele wollen auch Anzeige bei der Polizei erstatten. „Es hilft manchmal, wenn man das Ganze damit offiziell zu einem Abschluss bringen kann“, erklärt Sophie Binck.
Genauso wie die Opfer kommen auch die Täter aus allen gesellschaftlichen Schichten. 40 Prozent der Täter stammen aus der eigenen Familie. 40 Prozent sind Bekannte wie Nachbarn oder Lehrer. Und 20 Prozent sind Fremde. „Studien zeigen, dass etwa 90 Prozent der Täter männlich sind, um die zehn Prozent weiblich“, erklärt Sophie Binck.
Eine Sache ist den beiden Beraterinnen besonders wichtig: „Es soll ganz klar werden: Wenn ein Mädchen sexualisierte Gewalt erlebt hat, ist das schrecklich. Aber sein Leben ist nicht vorbei.“Deshalb betonen fehlen auch: Nicht übereilt reagieren, nicht sofort die Polizei einschalten und sich jederzeit auch selbst beraten lassen.
● Beratungsstellen in Augsburg Der Verein Wildwasser Augsburg berät Mädchen. Weitere Hilfe können Betroffene auch am Josefinum finden. Für häusliche Gewalt können Betroffene sich an „via – Anlaufstelle für Wege aus der Gewalt“wenden. Das Hilfetelefon für Beratung und Hilfe bei Gewalt gegen Frauen ist unter der Telefonnummer 0800/116016 erreichbar. Kinder und Jugendliche können sich anonym und kostenlos an die Nummer gegen Kummer unter der 116111 wenden. (mahei) sie ausdrücklich, dass das, was den Opfern passiert, schlimm ist. Aber es wird auch wieder besser werden. Sie sagen: „Ich bin mir sicher, du bist noch so jung, dass du noch ganz viele tolle Erfahrungen machen wirst.“Nur weil Mädchen und Frauen solche schrecklichen Erlebnisse durchstehen mussten, heißt das nicht, dass sie nie wieder glücklich werden könnten. „Man kann trotzdem einen Partner oder eine Partnerin haben, eine Familie gründen. Und irgendwann kann es möglich sein, wieder Vertrauen, Nähe und Sexualität zuzulassen.“
OAktion Zum Welt-Mädchentag am Freitag, 11. Oktober, werden bundesweit Gebäude in Pink angestrahlt. Verantwortlich ist dafür das Kinderhilfswerk Plan, das auch in Augsburg eine Aktionsgruppe hat. Wie auch in vergangenen Jahren werden in Augsburg die Rathaustüre, das Verwaltungsgebäude 1 am Rathausplatz und der Königsplatz illuminiert. Um 19.30 Uhr findet am Freitag außerdem ein Benefizkonzert im Bürgersaal Stadtbergen statt. Verschiedene Künstler aus der Region treten ohne Gage auf. Der Eintritt zum Konzert ist frei, um Spenden für das Kinderhilfswerk Plan wird gebeten.
Viele Betroffene entwickeln eine Essstörung
40 Prozent der Täter stammen aus der Familie