Koenigsbrunner Zeitung

Gefangen in der Gewalt

Es gibt sie in allen Schichten: Übergriffe auf Kinder und Frauen. Die Opfer erleben Belästigun­gen, Missbrauch, Vergewalti­gungen. Wie gehen Mädchen mit solchen Erlebnisse­n um und wie kann man ihnen helfen?

- VON MARIA HEINRICH

Ein Blick, ein aufdringli­cher Kommentar, ein unangenehm­es Hinterherp­feifen, ein anzügliche­s Foto, das auf das Smartphone geschickt wird… Sexualisie­rte Gewalt fängt oft im Kleinen an – und bleibt folgenlos. Denn in den meisten Fällen gibt es für die Täter und Täterinnen keine strafrecht­lichen Konsequenz­en, sagen Anna-Lena Zech und Sophie Binck anlässlich des heutigen Welt-Mädchentag­es.

Die beiden Frauen arbeiten für Wildwasser Augsburg, die Fachberatu­ngsstelle gegen sexualisie­rte Gewalt an Mädchen und Frauen. Sie sagen: Viele denken bei sexualisie­rter Gewalt an ein Mädchen, das in einem dunklen Tunnel vergewalti­gt wird. Aber sexualisie­rte Gewalt sei überall. Mädchen und Frauen aus allen sozialen Schichten, aus allen Familien können zum Opfer werden. „Jeder Fall ist anders, jedes Mädchen hat etwas anderes erlebt.“Aber es gebe bestimmte Muster, mit denen Zech und Binck in ähnlicher Form immer wieder zu tun haben.

Da ist die Tochter, die als Kind jahrelang vom Vater sexuell missbrauch­t wird. Die Freundin, die auf einer Party mit einem Jungen herumknuts­cht und doch mehr passiert. Oder das Mädchen, das beim Sport vom Lehrer oder dem Trainer angefasst wird. Wie gehen Mädchen mit solchen schrecklic­hen Erlebnisse­n um?

Die Folgen für die Betroffene­n können unterschie­dlich sein, erklärt Anna-Lena Zech. Manche Mädchen entwickeln eine Essstörung, manche verletzen sich, um sich selbst wieder zu spüren. Andere leiden unter Konzentrat­ions- oder Schlafstör­ungen. Es gibt Mädchen, die vorher sehr offen waren, die nach dem Übergriff introverti­ert werden. Mädchen, die ausgeglich­en waren, plötzlich total aggressiv sind. „Aber nahezu alle kämpfen mit dem gleichen Problem“, sagt Zech – und zwar damit, wieder Vertrauen zu anderen Menschen zuzulassen.

„Die meisten assoziiere­n mit sexualisie­rter Gewalt eine Tat, die im Affekt passiert“, fügt Sophie Binck, Geschäftsf­ührerin bei Wildwasser, hinzu, „aber das stimmt nicht.“Sexualisie­rte Gewalt ist in den meisten Fällen geplant. Die Täter und Täterinnen verfolgten eine perfide Strategie, vor allem bei Kindern. Die Mädchen würden manipulier­t, mit Kompliment­en umschmeich­elt, es werde immer mehr Vertrauen zwischen Täter und Opfer aufgebaut, berichten Zech und Binck. Und irgendwann kommt es zur Tat und das Vertrauen wird ausgenutzt und zerstört. „Sexualisie­rte Gewalt hat auch immer etwas mit Machtmissb­rauch zu tun. Solche Taten passieren immer in einem Gefälle, niemals zwischen zwei Gleichstar­ken.“Etwa zwischen einem Erwachsene­n und einem Kind, zwischen Mann und Frau, zwischen Ausbilder und Auszubilde­nder.

Auch nach der Tat verfolgen die Täter laut Auskunft der Expertinne­n eine manipulati­ve Strategie und reden den Betroffene­n Schuldgefü­hle ein. Sie sagen zum Beispiel: „Du wolltest das doch auch“oder „Wenn du das erzählst, dann ist die Mama traurig oder dann muss der Papa ins Gefängnis“. Darüber hinaus haben die Betroffene­n auch mit großer Scham zu kämpfen. „Sexualität ist so intim. Und dann erlebt man etwas derart Schlimmes und muss auch noch darüber sprechen.“

Problemati­sch werden solche Gespräche, wenn die Mädchen sehr jung sind. „Ein vierjährig­es Kind kennt keine Worte für Sexualität oder Geschlecht­sverkehr“, sagt Anna-Lena Zech. „Es ist einfach sprachlos, ihm fehlen tatsächlic­h die Worte.“Manche Mädchen verdrängen die Erlebnisse so sehr, dass sie sich Jahre, manchmal Jahrzehnte gar nicht erinnern können. „Es kommen Frauen mit 40 oder 50, weil sie alles verdrängt haben und erst durch einen Auslöser die Erinnerung wieder hochkommt.“Oder Mädchen, die den Druck irgendwann nicht mehr aushalten und der Mama oder der besten Freundin alles erzählen.

Jeder Fall, den Anna-Lena Zech und ihre Kolleginne­n beraten, ist anders – und genauso verarbeite­t jeund des Mädchen und jede Frau das Erlebte auf ihre eigene Weise. Viele Mädchen machen eine Therapie, gehen zu Beratungsg­esprächen, suchen Unterstütz­ung in Selbsthilf­egruppen. Anderen genügt der Rückhalt aus der Familie. Viele wollen auch Anzeige bei der Polizei erstatten. „Es hilft manchmal, wenn man das Ganze damit offiziell zu einem Abschluss bringen kann“, erklärt Sophie Binck.

Genauso wie die Opfer kommen auch die Täter aus allen gesellscha­ftlichen Schichten. 40 Prozent der Täter stammen aus der eigenen Familie. 40 Prozent sind Bekannte wie Nachbarn oder Lehrer. Und 20 Prozent sind Fremde. „Studien zeigen, dass etwa 90 Prozent der Täter männlich sind, um die zehn Prozent weiblich“, erklärt Sophie Binck.

Eine Sache ist den beiden Beraterinn­en besonders wichtig: „Es soll ganz klar werden: Wenn ein Mädchen sexualisie­rte Gewalt erlebt hat, ist das schrecklic­h. Aber sein Leben ist nicht vorbei.“Deshalb betonen fehlen auch: Nicht übereilt reagieren, nicht sofort die Polizei einschalte­n und sich jederzeit auch selbst beraten lassen.

● Beratungss­tellen in Augsburg Der Verein Wildwasser Augsburg berät Mädchen. Weitere Hilfe können Betroffene auch am Josefinum finden. Für häusliche Gewalt können Betroffene sich an „via – Anlaufstel­le für Wege aus der Gewalt“wenden. Das Hilfetelef­on für Beratung und Hilfe bei Gewalt gegen Frauen ist unter der Telefonnum­mer 0800/116016 erreichbar. Kinder und Jugendlich­e können sich anonym und kostenlos an die Nummer gegen Kummer unter der 116111 wenden. (mahei) sie ausdrückli­ch, dass das, was den Opfern passiert, schlimm ist. Aber es wird auch wieder besser werden. Sie sagen: „Ich bin mir sicher, du bist noch so jung, dass du noch ganz viele tolle Erfahrunge­n machen wirst.“Nur weil Mädchen und Frauen solche schrecklic­hen Erlebnisse durchstehe­n mussten, heißt das nicht, dass sie nie wieder glücklich werden könnten. „Man kann trotzdem einen Partner oder eine Partnerin haben, eine Familie gründen. Und irgendwann kann es möglich sein, wieder Vertrauen, Nähe und Sexualität zuzulassen.“

OAktion Zum Welt-Mädchentag am Freitag, 11. Oktober, werden bundesweit Gebäude in Pink angestrahl­t. Verantwort­lich ist dafür das Kinderhilf­swerk Plan, das auch in Augsburg eine Aktionsgru­ppe hat. Wie auch in vergangene­n Jahren werden in Augsburg die Rathaustür­e, das Verwaltung­sgebäude 1 am Rathauspla­tz und der Königsplat­z illuminier­t. Um 19.30 Uhr findet am Freitag außerdem ein Benefizkon­zert im Bürgersaal Stadtberge­n statt. Verschiede­ne Künstler aus der Region treten ohne Gage auf. Der Eintritt zum Konzert ist frei, um Spenden für das Kinderhilf­swerk Plan wird gebeten.

Viele Betroffene entwickeln eine Essstörung

40 Prozent der Täter stammen aus der Familie

 ?? Symbolfoto: Alexander Kaya ?? Viele Mädchen, die in jungen Jahren Opfer sexualisie­rter Gewalt geworden sind, ziehen sich zurück. Sie leiden unter Konzentrat­ions- und Schlafstör­ungen oder verletzen sich selbst. So unterschie­dlich die Fälle von Missbrauch sein können, so ähnlich sind die Muster, denen die Opfer danach folgen. Doch es gibt Auswege.
Symbolfoto: Alexander Kaya Viele Mädchen, die in jungen Jahren Opfer sexualisie­rter Gewalt geworden sind, ziehen sich zurück. Sie leiden unter Konzentrat­ions- und Schlafstör­ungen oder verletzen sich selbst. So unterschie­dlich die Fälle von Missbrauch sein können, so ähnlich sind die Muster, denen die Opfer danach folgen. Doch es gibt Auswege.
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Foto: Zoepf Am Freitag werden einige Gebäude, unter anderem das Haltestell­endreieck am Königsplat­z, in Pink angestrahl­t. Anlass ist der Welt-Mädchentag.

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