Das Unglück liegt in der Familie
Cannes: Holt Haneke nochmal die Palme?
Cannes Michael Haneke ist beim Festival in Cannes eine Legende – und bekannt für Filme, die das Gegenteil von Wohlfühlkino sind. Seit seiner schockierenden Gewaltstudie „Funny Games“(1997) hat der Regisseur mit nur einer Ausnahme seine Filme hier im Wettbewerb präsentiert und fast jedes Mal eine Auszeichnung erhalten. Für seine letzten Werke, „Das weiße Band“(2009) und „Liebe“(2012), erhielt er gar die Goldene Palme. Kein Wunder also, dass für die Filmenthusiasten an der Croisette Hanekes neuestes Werk, „Happy End“, zu den am meisten erwarteten Filmen gehörte, angeheizt zusätzlich durch die Aussicht auf eine kleine Sensation. Denn der 75-Jährige könnte der erste Regisseur der Festivalgeschichte werden, der den begehrten Preis zum dritten Mal bekommt.
Eines kann man festhalten: „Happy End“erfüllt die Erwartungen an einen Haneke-Film zur Gänze. In knapp gehaltenen Vignetten wird eine Familie gezeigt, für deren Charakterisierung das Wort „dysfunktional“noch zu gemütlich klingt. Der 86-jährige Jean-Louis Trintignant verkörpert einen lebensmüden Patriarchen, über den seine Kinder hinter seinem Rücken die Augen rollen. Die in allen Regungen berechnend wirkende Tochter (Isabelle Huppert) leitet das Familienbauunternehmen. Der Sohn (Mathieu Kassovitz) ist Arzt, gerade mit einer neuen Frau noch einmal Vater geworden und doch auf Sex-Chats unterwegs. Fast alle Figuren wirken wie Doppelgänger aus früheren Haneke-Filmen – und trotzdem fügen sie sich hier perfekt zu einem verhaltenen Drama über Gefühlskälte und Obsession. Wie immer bei Haneke-Filmen waren die ersten Reaktionen gespalten. Wie die Jury unter Vorsitz des doch so viel lebensfreudigeren Filmemachers Pedro Almodóvar ihn einschätzt, wird man am Sonntag erfahren.
Als harten Kontrast dazu kam der Wettbewerbsbeitrag des amerikanischen Regisseurs Noah Baumbach daher. Seine „Meyerowitz Stories“drehen sich auch um eine unglückliche Familie, nur dass hier in klassischer US-Komödienstilistik das Unglück gleichzeitig unterhaltsam ist. Der 79-jährige Dustin Hoffman spielt den Patriarchen, einen Künstler, der nie den großen Erfolg erzielt und seine drei erwachsenen Kinder zeitlebens vernachlässigt hat. Die Überraschung des Films liefern die Komiker Adam Sandler und Ben Stiller, die als konkurrierende Söhne beide ihr selten gefordertes Talent zur Ernsthaftigkeit zeigen dürfen. Regisseur Baumbach liefert mit „Meyerowitz Stories“jene Art von geschliffen geschriebener Geschichte mit Humor und Emotion, die in Cannes oft wenig gilt, aber später im Kino gut laufen wird.
Wobei Letzteres in den Sternen steht, handelt es sich doch um den zweiten von Netflix präsentierten Film im diesjährigen Wettbewerb – was wie schon beim Netflix-Film „Okja“zu Buhrufen für das Logo im Titel zu Filmanfang führte. Die Kontroverse um den Streamingdienst und die neuen Strukturen des Filmauswertens geht in Cannes also weiter. Barbara Schweizerhof, epd