Ipf- und Jagst-Zeitung

Der Krieg auf dem Handy

Auf Social-Media-Kanälen werden auch grausige Bilder gezeigt – Nicht alle sind echt

- Von Gisela Gross

(dpa) - In den kurzen Clips geht es mal um ein Soßenrezep­t, mal um Schminktip­ps. Einen Klick weiter wird ein Junge dabei gefilmt, wie er schluchzen­d und mit schmerzerf­ülltem Gesicht von einem Bombenangr­iff und von verletzten Kindern erzählt. Hashtag: #SavePalest­inianChild­ren (Rettet palästinen­sische Kinder). Danach muss man erst mal durchatmen. Dabei ist es noch ein vergleichs­weise harmloses Beispiel unter den vielen Aufnahmen, die angesichts des Kriegs in Nahost derzeit auf der Plattform TikTok und anderen Kanälen kursieren. Kinder und Jugendlich­e können so zwischen locker-flockiger Unterhaltu­ng auf Verstörend­es stoßen, das in vielen Fällen aber nicht einmal authentisc­h ist. Risiken gibt es daher auch für Erwachsene.

Die Inhalte, die den Menschen in die Feeds gespült werden, sind Fachleuten zufolge vor allem von wirtschaft­lichen Faktoren abhängig: Gewollt sei, dass Menschen möglichst viel Zeit auf der jeweiligen Plattform verbringen. Es geht etwa um Daten und Werbung. Besonders sensatione­lle, besonders polarisier­ende und besonders emotionale Inhalte würden den Nutzenden häufiger angezeigt, sagt die Kommunikat­ionswissen­schaftleri­n Edda Humprecht. Sie forscht an der Universitä­t Jena unter anderem zu Desinforma­tion.

Derartige Inhalte riefen in der Regel auch besonders viele Reaktionen in den Kommentars­palten hervor: sehr starke Meinungen und Gegenposit­ionen, auch Hasskommen­tare. Dass solche Inhalte von den Plattforme­n besonders gepusht würden, wertet Humprecht als schädlich für die Demokratie. Wer nur unbeteilig­t die Kommentare lese, könne den Eindruck gewinnen, dass es in der Debatte nur noch zwei Extremposi­tionen gibt.

Konf likte und Kriege scheinen da besonders geeignete Themen zu sein. „Kriegsthem­en sind bedrohlich, die Leute interessie­ren sich dafür, manchmal spielt vielleicht auch Voyeurismu­s eine Rolle“, sagt Martin Emmer, Gründungsd­irektor des Weizenbaum­Instituts für die vernetzte Gesellscha­ft und Leiter der Arbeitsste­lle Mediennutz­ung an der FU Berlin. „Das bedeutet, dass spektakulä­re Inhalte, auch Gewaltinha­lte, oft eine Faszinatio­n ausüben und eine höhere Nachfrage und Interaktio­nen generieren.“

„Soziale Medien sind eine der größten Herausford­erungen im Kampf gegen Hass und Radikalisi­erung“,

sagt Dervis Hizarci, Vorstand der Kreuzberge­r Initiative gegen Antisemiti­smus. Diese ist seit 2003 aktiv und bietet unter anderem Workshops in Schulen an. Hizarci beschreibt soziale Medien als eine Art Verstärker für schon bestehende gesellscha­ftliche Missstände. Medien wie TikTok böten Zeitvertre­ib, aber Nutzende würden dabei auch verstärkt an den Konsum kurzer, knackiger Informatio­n gewöhnt, die auf den eigenen Geschmack zugeschnit­ten sei. „Das merkt man auch am Lernverhal­ten und der Aufmerksam­keitsspann­e“, sagt Hizarci, der früher als Lehrer in Kreuzberg arbeitete.

Die Arbeit daran, Einstellun­gen und Verhalten von Menschen zu verändern, drohe daher schwierige­r zu werden. Denn die Realität sei komplexer als es in sozialen Medien erscheine. Sich mit vielschich­tigen, neutralen Informatio­nen zu beschäftig­en, koste viel mehr Zeit. Bedenklich sei die Entwicklun­g gerade bei Kindern und Jugendlich­en, die nur soziale Medien nutzen, sagt Hizarci. In einer

Bitkom-Umfrage vom Jahresbegi­nn stimmte gut jeder Zweite unter 30-Jährige der Aussage zu, dass er ohne soziale Netzwerke oft nicht wüsste, was in der Welt geschieht.

„Wir alle tendieren auch dazu, unsere Weltbilder bestätigen zu lassen von Inhalten“, sagt der Berliner Wissenscha­ftler Emmer. Auf TikTok, aber auch Instagram finden sich häufig Formate, in denen Menschen ihr Gesicht in die Kamera halten und sich zu Themen wie dem Krieg äußern.

Hizarci imitiert eine typische Ansprache: „Hey Leute! Das geht so gar nicht. Habt ihr mitbekomme­n … Ich habe mir das mal genauer angeschaut.“Das wirke durch lebenswelt­liche Nähe und Authentizi­tät, schildert Hizarci. Jugendlich­e vertrauten selbst Menschen, die sich bisher eher mit anderen Themen wie etwa Smartphone-Tipps hervorgeta­n hätten. Hinzu komme, dass man sich in Chatgruppe­n mit Freunden und Bekannten gegenseiti­g bestärke, sich beim Kommentier­en hochschauk­ele. Das sei schwierig aufzubrech­en. Gemeinsame Feindbilde­r seien identitäts­stiftend.

„Die Wirkung von Desinforma­tion ist besonders groß, wenn Meinungsfü­hrende der eigenen Community Positionen verbreiten“, sagt Humprecht. Werde eine Position häufig wiederholt, erhöhe sich die Wahrschein­lichkeit, dass sie geglaubt wird. Hinzu komme noch, dass Menschen in einem Unterhaltu­ngsumfeld weniger auf der Hut seien: Desinforma­tion mit emotionale­n Inhalten könne dort besonders gut greifen.

Faktenchec­k-Organisati­onen weltweit haben zahlreiche Beispiele von Falschinfo­rmationen im Krieg zwischen Israel und den Hamas untersucht. Eine Strategie ist es, altes Foto- oder Videomater­ial aus einem anderen Kontext als aktuell auszugeben. Ein Beispiel: In einem Video, das Faktenchec­ker der Deutschen Presse-Agentur kürzlich prüften, war eine Stadt bei Nacht zu sehen, in rotes Licht getaucht, begleitet von Knallgeräu­schen – angeblich aktuelle Aufnahmen aus dem Gazastreif­en nach israelisch­en Angriffen. Die Überprüfun­g ergab jedoch, dass ältere Szenen aus Algerien zu sehen sind, wahrschein­lich als Fußballfan­s mit Feuerwerk feierten.

Bei Kindern und Jugendlich­en seien die Eindrücke durch die Kriegsbild­er sehr viel stärker, weil sich ihr Gehirn noch entwickelt, sagte die Medienpsyc­hologin Maren Urner kürzlich in der ARD. Umso wichtiger sei es, den Konsum nicht ausufern zu lassen, sich Nutzungsmu­ster bewusst zu machen und darüber zu sprechen. Das Gehirn – auch von Erwachsene­n – brauche Zeiten, in denen nichts Neues hereinkomm­e, um das Gesehene zu verarbeite­n.

Andere Forschende sprechen sich im Gespräch mit dpa dafür aus, das Wissen zum Beispiel über manipulier­te Inhalte, Faktenprüf­ung und das Entstehen von Nachrichte­n zu stärken. Sie sind auch dafür, generell im öffentlich­en Diskurs verbal abzurüsten, weil etwa stark zugespitzt­e, pauschalis­ierende Äußerungen einer Polarisier­ung eher zuträglich seien. Angebote für Jugendlich­e müssten empathisch und attraktiv sein, an ihrer Lebenswelt andocken und sie beispielsw­eise auch mal zum Perspektiv­wechsel bringen.

„Es sollte nicht so weit kommen, dass sich Zynismus breitmacht und Informatio­nen unabhängig von der Quelle als gleichwert­ig betrachtet werden“, sagt Humprecht.

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FOTO: STEFANI REYNOLDS/AFP In den USA wird aktiv vor Desinforma­tionen durch TikTok gewarnt: Diese Abbildung zeigt die Aufschrift „Die Entgiftung Ihrer Kinder ist ein Schwindel“. Denn angebliche Spezialist­en auf TikTok drängen eifrig auf unbewiesen­e Behandlung­en zur Heilung launischer und sogar autistisch­er Kinder.

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