„Die Sicherheitsorgane machen die Politik“
Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow über Pressefreiheit, Straßenopposition und Alexei Nawalny
MOSKAU - Dmitri Andrejewitsch Muratow, 59, ist Chefredakteur der 1993 von ihm mit begründeten Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“. Die Redaktion ist für kritische Reportagen über korrupte Behörden oder russische Kriegsverbrechen von Tschetschenien bis Syrien bekannt, immer wieder gab es Anschläge und Drohungen gegen die Redaktion und ihre Mitglieder, fünf ihrer Journalisten wurden ermordet. Nun ist Muratrow mit dem Friedensnobelpreis für sein Engagement gewürdigt worden.
Herr Muratow, unabhängige Medien und einzelne Journalisten werden als „ausländische Agenten“diskriminiert, gegen manche Strafverfahren eröffnet. Warum? Wenn Journalisten als ausländische Agenten gebrandmarkt werden, ist das tatsächlich Misstrauen gegenüber dem Volk. Angriffe auf die Presse bedeuten immer Misstrauen gegenüber dem Volk.
Sie haben in einem Interview gesagt, dass die Staatsmacht gegenüber der Opposition statt politischer Mittel inzwischen Methoden der Sicherheitsorgane anwendet. Gilt das auch für den Journalismus? Unbedingt. Schauen Sie, russische Medien werden ohne Gerichtsverhandlung zu ausländischen Agenten erklärt. Die Gerichte entscheiden nicht mehr, das bedeutet, die Sicherheitsorgane machen die Politik.
Ist das System eine Maschine, die, einmal eingeschaltet, nicht mehr anhalten kann? Oder gibt es dahinter doch irgendwelche menschliche Motivationen?
Ich sehe nur einen Grund: In den vergangenen Jahren haben gerade die
Medien angefangen, statt des Parlaments die Interessen des russischen Volkes wahrzunehmen. Oder zumindest jener Menschen, die alternative Ansichten zu den wesentlichsten Fragen besitzen, zur Welt, zur Zukunft oder zum Krieg, vielleicht 15 Millionen, vielleicht 20 Millionen. Für sie sind die Medien zum Parlament, zur wirklichen Duma geworden. Sie formuliert ihre Meinungen, berücksichtigt sie. Im Grunde geht es darum, dieses Parlament zu vernichten, damit es weiter keine alternativen Ansichten mehr äußert.
Jetzt diskutiert ein Teil des russischen Internets, warum Sie und nicht Alexei Nawalny den Friedensnobelpreis erhalten haben. Worin sehen Sie selbst den Unterschied zwischen sich und Nawalny, zwischen Ihren Vorstellungen und Werten und seinen?
Es ist völlig gleichgültig, worin sich meine Vorstellungen von denen Alexei Nawalnys unterscheiden. Nawalny ist ein politischer Gefangener, ich werde seine Rechte verteidigen.
Nawalny gilt als Symbol des Kampfes. Er selbst sagt, dass ihn Hass gegen Wladimir Putin und die korrumpierte Umgebung Putins antreibt. Sie dagegen sind nicht häufig aber regelmäßig mit anderen Chefredakteuren bei Putin. Und sie müssen oft Vertreter seines Systems kontaktieren, um Kollegen zu schützen oder zu retten. Wer handelt in dieser Hinsicht richtig, Sie oder Nawalnys?
Einigen wir uns auf Folgendes: Ich werde nicht das praktische politische Tun eines Menschen diskutieren, der im Straflager sitzt. Es gibt verschiedene Methoden. Geistliche verwenden die einen, Journalisten andere, Politiker wieder andere. Ja, ich habe an Treffen mit dem Präsidenten teilgenommen, ja ich habe bei einem dieser Treffen die Vergiftung Nawalnys mit dem Kampfstoff Nowitschok zur Sprache gestellt. Was der Präsident geantwortet hat, kann ich nicht sagen, weil das Gespräch off the record war. Hätte ich etwa nicht zu dem Treffen mit dem Präsidenten gehen und nicht diese Frage stellen sollen?
Sie haben einmal gesagt, manchmal sei es besser, den Kopf in den Sand zu stecken, als seine Anhänger vor die Gummiknüppel der Polizei zu schicken?
Ich erkläre Ihnen meine Aussage: Der Strauß steckt ja keineswegs seinen Kopf in den Sand, um sich zu verbergen. Sondern er dreht mit seinem Schnabel die Eier im Sand herum, damit sie gleichmäßig gewärmt werden. Der Strauß denkt an die Zukunft und bewahrt seinen Nachwuchs. Auch wir müssen manchmal an die
Zukunft denken, an unsere Nachkommen, statt unsere Anhänger vor die Gummiknüppel zu jagen. Manchmal muss man sich Aufklärungsarbeit widmen, dem Kampf gegen Aberglauben und Verschwörungstheorien. Manchmal muss man handeln wie der Strauß.
Viele Oppositionelle sitzen im Gefängnis, viele Politiker und Aktivisten mussten wirklich ausreisen, Nawalnys Stäbe wurden verboten, andere Parteien haben dichtgemacht oder sind verstummt.
Die oppositionellen Strukturen, ihre Stäbe und Organisationen sind zertrümmert, aber die Opposition als solche ist nirgendwohin verschwunden, sie existiert in den Köpfen der Menschen weiter, die Leute denken über neue alternative Ideen und Themen nach, reden in sozialen Netzen und auf verschiedenen Tribünen darüber.
Als im Winter, nach Nawalnys Verhaftung in Moskau 20 000 Leute auf die Straße gingen, riefen mich Kollegen aus Deutschland an und erkundigten sich, wann Putins Regime zusammenbricht.
In der Russischen Föderation unterstützen 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung Putin. Es nutzt nichts, sich an den Mythos zu klammern, dass bald, im Herbst oder im Winter, das Regime stürzt. Bis auf Weiteres stürzt in Russland kein Regime.
Warum gehen die Leute Ihrer Ansicht nach nicht auf die Straße? Woher weiß ich das. Noch einmal: Ich bin Journalist. Aber Sie stellen mir Fragen für Politiker. Fragen Sie Alexei Nawalny oder Leonid Wolkow, seinen Stabschef. Habe ich die Leute auf die Straße eingeladen oder sie?
Aber was schlagen Sie in dieser Situation jenen 15 oder 20 Millionen Russen vor, gerade den jungen Russen, die nicht mit dem einverstanden sind, was im Land passiert? Viele junge Leute machen jetzt bei uns Praktika, arbeiten und schreiben. Ich wünsche ihnen aufrichtig, dass sie zum Gegengift gegen den obskuren Aberglauben werden. Ich denke, Ausbildung und Aufklärung, Arbeit mit neuen Daten, mit Künstlicher Intelligenz, das ist interessant, das ist der Weg zur Freiheit. Wir müssen eine neue freie Generation schaffen. Und mir scheint, sie wird entstehen.