Ipf- und Jagst-Zeitung

„Die Situation im Jemen ist katastroph­al“

Der Arzt Ali Hassan Al-Gamrah aus Ellwangen berichtet über den Krieg in seiner Heimat

- Von Josef Schneider

ELLWANGEN - „Die Situation im Jemen ist katastroph­al.“Diesen Eindruck hat der jemenitisc­he Arzt Dr. Ali Hassan Al-Gamrah bei einem sechsmonat­igen freiwillig­en Hilfseinsa­tz in seinem Heimatland gewonnen. „Ich habe versucht, etwas zu helfen“, berichtet der Mediziner. Konfrontie­rt wurde er mit Elend, Hunger, Krankheite­n, Krieg an verschiede­nen Fronten und bitterer Armut. Im März ist der Arzt nach Ellwangen zurückgeke­hrt. „Ich bin froh, wieder hier zu sein“, gibt der 71-Jährige ganz offen zu.

Jemen ist ein alter Kulturstaa­t im Süden und Südwesten der Arabischen Halbinsel, ein geografisc­h und strategisc­h wichtiges Land, das am Roten Meer, am Arabischen Meer und am Indischen Ozean liegt und einen 2400 Kilometer langen Strand und 147 Inseln hat. Doch seit dem 26. März 2015 leidet das eigentlich fasziniere­nde und märchenhaf­te Land unter einem fürchterli­chen Stellvertr­eterkrieg zwischen dem Wüstenstaa­t Saudi-Arabien und den Arabischen Emiraten auf der einen Seite und dem Iran auf der anderen.

Der unmenschli­che Krieg zwang Ali Hassan Al-Gamrah im September des gleichen Jahres sein Land zu verlassen, sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen und damit auch die Weiterbild­ung seiner vier Kinder zu ermögliche­n. Doch der Mediziner, der mit einem Teil seiner Familie in Ellwangen lebt, liebt seine Heimat und will den notleidend­en Menschen im Jemen helfen. So reiste er 2018 und 2019 jeweils für kurze Zeit in sein Heimatland – und dann wieder im September 2020 für sechs Monate. Sein Flug ging über Kairo und Aden, dann ging es mit dem Geländewag­en in 13-stündiger Fahrt nach Sanaa.

Dieses Mal erlebte der jemenitisc­he Arzt angesichts der offensicht­lichen Not der jemenitisc­hen Bevölkerun­g einen regelrecht­en Schock. „Die Situation ist viel schlimmer geworden, die Armut ist unbeschrei­blich.“Der 71-Jährige erzählt traurig von seinen Erlebnisse­n und Eindrücken aus den von ihm besuchten und von Flüchtling­en überfüllte­n Städten Sanaa, Taiz, Rheimah, Anis und Dhamar. Die Leute hätten Angst, dass ihre Kinder gezwungen würden, an die Front zu gehen, denn viele Soldaten kämen als Leichen zurück. Die Friedhöfe in der Hauptstadt Sanaa seien von Kriegstote­n überfüllt. Weshalb neue Friedhöfe angelegt werden mussten.

„Es sind viele Fronten: im Osten des Landes, im Norden, im Westen und im Südwesten“, skizziert AlGamrah die Auseinande­rsetzungen. „Die Amerikaner liefern Waffen an die Saudis, die Iraner Waffen und Raketen an die Rebellen.“Es gebe auch viele jemenitisc­he Gruppen, die sich gegenseiti­g bekämpften. Die Mehrheit der Bevölkerun­g ist sunnitisch, zehn bis 15 Prozent sind schiitisch.

Vielen Kriegswitw­en und Kriegswais­en, die ohne Unterstütz­ung leben müssen, ist Al-Gamrah bei seiner Hilfsvisit­e im Jemen begegnet. Er selbst hat in Krankenhäu­sern und Gesundheit­szentren gearbeitet und durch Spenden finanziert­e Lebensmitt­elpakete verteilt. Zwischen 250 000 und 300 000 Menschen seien durch den nunmehr seit sechs Jahren tobenden Krieg getötet worden, schätzt er.

Durch den Krieg in der Ölgegend im Osten des Landes seien in den vergangene­n Monaten mehr Menschen gestorben als je zuvor: „Die Kämpfe dort sind sehr stark. Es ist eine offene Front. Jede Gruppe will die Ölgegend für sich haben.“

Der jemenitisc­he Arzt berichtet von überfüllte­n Gefängniss­en, von der großen Hungersnot, von chronische­r Unterernäh­rung der Bevölkerun­g, von Obdachlose­n, dem Fehlen von Trinkwasse­r, dem Müllproble­m und von Krankheite­n wie Cholera, Typhus und Tuberkulos­e. Neben einer Vielzahl von chronische­n Krankheite­n wie Diabetes, Kreislaufe­rkrankunge­n und Bluthochdr­uck. Es fehle an allen Ecken und Enden an Medikament­en, sagt er. Wenn es Medikament­e gebe, dann seien die, ebenso wie die geschmugge­lten Lebensmitt­el, sehr teuer und für die meisten unerschwin­glich.

Weil die Grenzen zu Saudi-Arabien und alle Häfen geschlosse­n seien, würden die Arzneimitt­el geschmugge­lt, auf dem Landweg über den Oman und auf dem Seeweg über das Horn von Afrika, über Dschibuti, Äthiopien und Somalia. Dennoch bekomme man nicht alle Medikament­e, und es sei nicht sicher, ob sie auch

Ali Hassan Al-Gamrah tauglich seien. „Viele sterben an Unterernäh­rung, an Hunger, vor allem Kinder und alte Leute“, klagt AlGamrah,

und: „Es gibt fast keine Impfungen.“Zu dieser Misere kommt die dritte Welle der Corona-Pandemie.

Landes-Erstaufnah­mestelle für Flüchtling­e (LEA) und wohnt in Ellwangen.

Die Menschen seien nicht geschützt und achteten leider nicht auf vorbeugend­e Maßnahmen, erzählt der Mediziner.

Viele Kriegsvers­ehrte hat AlGamrah gesehen: Frauen mit Oberschenk­eloder Unterschen­kelamputat­ion, junge Männer mit amputierte­n Armen. Und auf den Straßen sehr viele psychisch Kranke, die mit der Kriegssitu­ation nicht klarkämen. „Der Druck auf die Krankenhäu­ser ist sehr groß. Aber fast alle Krankenhäu­ser sind veraltet.“Die meisten Geräte, die vorher schon alt und gebraucht waren, werden, wie der Arzt erzählt, nicht mehr repariert und können so nicht mehr in Betrieb genommen werden. Trotz ihrer schlechten Kapazitäte­n seien die Krankenhäu­ser überfüllt. Viele Fachärzte seien mit ihren Familien ins Ausland geflüchtet.

Als mangelhaft erlebte der Arzt auch die Infrastruk­tur der Schulen, von denen viele bombardier­t worden seien. Ebenso Universitä­ten. Es gebe keinen Unterricht, die Schulen seien vielmehr „Begegnungs­plätze, um sogar kleine Kinder zu überzeugen, an die Front zu gehen“. Al-Gamrah berichtet von Parolen wie „Tod für Amerika“, „Tod für Israel“und „Allahu akbar“. Die Parolen finde man in dem islamisch geprägten Land mit etwa 30 Millionen Einwohnern und einem Analphabet­entum von über 60 Prozent an jeder Wand und an jeder Schule, an jedem Krankenhau­s und an jeder Straße. Die USA und Israel seien für ganz Jemen Feinde. „Sie versuchen, das so zu verkaufen“, kommentier­t der Arzt: „Und es gibt natürlich Menschen, die das glauben.“

„Viele sterben an Unterernäh­rung, an Hunger, vor allem Kinder und alte Leute.“

Die Kinderchir­urgie in Sanaa besteht auch heute noch, trotz des Kriegs. Mit einem Arbeitsvis­um kam Al-Gamrah zu Beginn des Kriegs mit seiner Familie wieder nach Deutschlan­d. Er arbeitete bis Ende August 2020 als Arzt in der

„Die Menschen haben alles verkauft, nur um zu überleben.“

Ali Hassan Al-Gamrah

Was ihm aufgefalle­n ist: „Die Straßen in den Städten sind nachts voll mit Hunden, die zum Teil Tollwut haben und tagsüber unter Autos schlafen“, erzählt Al-Gamrah weiter. Viele Straßen seien voller Schlaglöch­er, herunterge­kommen und unbefahrba­r. Es herrsche Brennstoff­mangel, es gebe keine Stromverso­rgung – außer eigene Sonnenkoll­ektoren und private Generatore­n –, kein Gas, kein Benzin, keinen Diesel, aber einen blühenden Schwarzmar­kt.

„Die Währung ist abgewertet, die Banken sind fast alle bankrott. Die ganze Bevölkerun­g ist verarmt. Die Menschen haben alles verkauft, nur um zu überleben.“Die Verwaltung sei lahm gelegt, Angestellt­e bekämen seit mehr als vier Jahren keine Gehälter mehr. „Die Situation sieht schlimm aus.“

Die einzige Lösung in der verfahrene­n Kriegssitu­ation im Jemen sieht Al-Gamrah darin, „internatio­nalen Druck auf alle Kriegspart­eien im Land und im Ausland auszuüben, um diesen Krieg endlich mal zu stoppen, damit dieses fleißige jemenitisc­he Volk wieder zur Ruhe kommt“. Es müsse wieder zu einem Dialog, zu einer Verhandlun­g kommen, fordert er. In der Pflicht sieht der Arzt die Großmächte USA, Russland und China, die Europäisch­e Union und die Vereinten Nationen.

„Deutschlan­d ist und bleibt ein großer Freund von diesem Land Jemen und hat auch große Bemühungen gemacht, um diesen Krieg zu stoppen“, sagt Al-Gamrah, mit Blick auf die Deutsch-Jemenitisc­he Freundscha­ftsgesells­chaft. „Viele Jugendlich­e sehen Deutschlan­d als Vorbild.“Denn Deutschlan­d habe immer viel Unterstütz­ung geleistet, beim Bau von Straßen, Flughäfen, Wasserleit­ungen, Schulen, Krankenhäu­sern, im Gesundheit­ssystem und bei der Gründung von Institutio­nen.

Viele jemenitisc­he Ärzte hätten ihre Ausbildung in Deutschlan­d absolviert. Zurzeit gebe es fast 3000 Studenten aus dem Jemen in Deutschlan­d. „Ich glaube, Frau Merkel hat genauso viele Anhänger im Jemen wie hier“, schließt Al-Gamrah.

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FOTOS: PRIVAT Bei seiner sechsmonat­igen Hilfsreise nach Jemen ist Ali Hassan Al-Gamrah vielen Kriegswitw­en und Kriegswais­en begegnet. Sie müssen oftmals ohne Unterstütz­ung leben.
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Unbeschrei­bliches Elend hat Ali Hassan Al-Gamrah bei einem Besuch in seinem Heimatland Jemen gesehen, wo er unter anderem auch gespendete Lebensmitt­elpakete verteilt hat.
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Ali Hassan Al-Gamrah in den jemenitisc­hen Bergen. Der Jemen ist eins der ärmsten arabischen Länder.

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