„Die Situation im Jemen ist katastrophal“
Der Arzt Ali Hassan Al-Gamrah aus Ellwangen berichtet über den Krieg in seiner Heimat
ELLWANGEN - „Die Situation im Jemen ist katastrophal.“Diesen Eindruck hat der jemenitische Arzt Dr. Ali Hassan Al-Gamrah bei einem sechsmonatigen freiwilligen Hilfseinsatz in seinem Heimatland gewonnen. „Ich habe versucht, etwas zu helfen“, berichtet der Mediziner. Konfrontiert wurde er mit Elend, Hunger, Krankheiten, Krieg an verschiedenen Fronten und bitterer Armut. Im März ist der Arzt nach Ellwangen zurückgekehrt. „Ich bin froh, wieder hier zu sein“, gibt der 71-Jährige ganz offen zu.
Jemen ist ein alter Kulturstaat im Süden und Südwesten der Arabischen Halbinsel, ein geografisch und strategisch wichtiges Land, das am Roten Meer, am Arabischen Meer und am Indischen Ozean liegt und einen 2400 Kilometer langen Strand und 147 Inseln hat. Doch seit dem 26. März 2015 leidet das eigentlich faszinierende und märchenhafte Land unter einem fürchterlichen Stellvertreterkrieg zwischen dem Wüstenstaat Saudi-Arabien und den Arabischen Emiraten auf der einen Seite und dem Iran auf der anderen.
Der unmenschliche Krieg zwang Ali Hassan Al-Gamrah im September des gleichen Jahres sein Land zu verlassen, sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen und damit auch die Weiterbildung seiner vier Kinder zu ermöglichen. Doch der Mediziner, der mit einem Teil seiner Familie in Ellwangen lebt, liebt seine Heimat und will den notleidenden Menschen im Jemen helfen. So reiste er 2018 und 2019 jeweils für kurze Zeit in sein Heimatland – und dann wieder im September 2020 für sechs Monate. Sein Flug ging über Kairo und Aden, dann ging es mit dem Geländewagen in 13-stündiger Fahrt nach Sanaa.
Dieses Mal erlebte der jemenitische Arzt angesichts der offensichtlichen Not der jemenitischen Bevölkerung einen regelrechten Schock. „Die Situation ist viel schlimmer geworden, die Armut ist unbeschreiblich.“Der 71-Jährige erzählt traurig von seinen Erlebnissen und Eindrücken aus den von ihm besuchten und von Flüchtlingen überfüllten Städten Sanaa, Taiz, Rheimah, Anis und Dhamar. Die Leute hätten Angst, dass ihre Kinder gezwungen würden, an die Front zu gehen, denn viele Soldaten kämen als Leichen zurück. Die Friedhöfe in der Hauptstadt Sanaa seien von Kriegstoten überfüllt. Weshalb neue Friedhöfe angelegt werden mussten.
„Es sind viele Fronten: im Osten des Landes, im Norden, im Westen und im Südwesten“, skizziert AlGamrah die Auseinandersetzungen. „Die Amerikaner liefern Waffen an die Saudis, die Iraner Waffen und Raketen an die Rebellen.“Es gebe auch viele jemenitische Gruppen, die sich gegenseitig bekämpften. Die Mehrheit der Bevölkerung ist sunnitisch, zehn bis 15 Prozent sind schiitisch.
Vielen Kriegswitwen und Kriegswaisen, die ohne Unterstützung leben müssen, ist Al-Gamrah bei seiner Hilfsvisite im Jemen begegnet. Er selbst hat in Krankenhäusern und Gesundheitszentren gearbeitet und durch Spenden finanzierte Lebensmittelpakete verteilt. Zwischen 250 000 und 300 000 Menschen seien durch den nunmehr seit sechs Jahren tobenden Krieg getötet worden, schätzt er.
Durch den Krieg in der Ölgegend im Osten des Landes seien in den vergangenen Monaten mehr Menschen gestorben als je zuvor: „Die Kämpfe dort sind sehr stark. Es ist eine offene Front. Jede Gruppe will die Ölgegend für sich haben.“
Der jemenitische Arzt berichtet von überfüllten Gefängnissen, von der großen Hungersnot, von chronischer Unterernährung der Bevölkerung, von Obdachlosen, dem Fehlen von Trinkwasser, dem Müllproblem und von Krankheiten wie Cholera, Typhus und Tuberkulose. Neben einer Vielzahl von chronischen Krankheiten wie Diabetes, Kreislauferkrankungen und Bluthochdruck. Es fehle an allen Ecken und Enden an Medikamenten, sagt er. Wenn es Medikamente gebe, dann seien die, ebenso wie die geschmuggelten Lebensmittel, sehr teuer und für die meisten unerschwinglich.
Weil die Grenzen zu Saudi-Arabien und alle Häfen geschlossen seien, würden die Arzneimittel geschmuggelt, auf dem Landweg über den Oman und auf dem Seeweg über das Horn von Afrika, über Dschibuti, Äthiopien und Somalia. Dennoch bekomme man nicht alle Medikamente, und es sei nicht sicher, ob sie auch
Ali Hassan Al-Gamrah tauglich seien. „Viele sterben an Unterernährung, an Hunger, vor allem Kinder und alte Leute“, klagt AlGamrah,
und: „Es gibt fast keine Impfungen.“Zu dieser Misere kommt die dritte Welle der Corona-Pandemie.
Landes-Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge (LEA) und wohnt in Ellwangen.
Die Menschen seien nicht geschützt und achteten leider nicht auf vorbeugende Maßnahmen, erzählt der Mediziner.
Viele Kriegsversehrte hat AlGamrah gesehen: Frauen mit Oberschenkeloder Unterschenkelamputation, junge Männer mit amputierten Armen. Und auf den Straßen sehr viele psychisch Kranke, die mit der Kriegssituation nicht klarkämen. „Der Druck auf die Krankenhäuser ist sehr groß. Aber fast alle Krankenhäuser sind veraltet.“Die meisten Geräte, die vorher schon alt und gebraucht waren, werden, wie der Arzt erzählt, nicht mehr repariert und können so nicht mehr in Betrieb genommen werden. Trotz ihrer schlechten Kapazitäten seien die Krankenhäuser überfüllt. Viele Fachärzte seien mit ihren Familien ins Ausland geflüchtet.
Als mangelhaft erlebte der Arzt auch die Infrastruktur der Schulen, von denen viele bombardiert worden seien. Ebenso Universitäten. Es gebe keinen Unterricht, die Schulen seien vielmehr „Begegnungsplätze, um sogar kleine Kinder zu überzeugen, an die Front zu gehen“. Al-Gamrah berichtet von Parolen wie „Tod für Amerika“, „Tod für Israel“und „Allahu akbar“. Die Parolen finde man in dem islamisch geprägten Land mit etwa 30 Millionen Einwohnern und einem Analphabetentum von über 60 Prozent an jeder Wand und an jeder Schule, an jedem Krankenhaus und an jeder Straße. Die USA und Israel seien für ganz Jemen Feinde. „Sie versuchen, das so zu verkaufen“, kommentiert der Arzt: „Und es gibt natürlich Menschen, die das glauben.“
„Viele sterben an Unterernährung, an Hunger, vor allem Kinder und alte Leute.“
Die Kinderchirurgie in Sanaa besteht auch heute noch, trotz des Kriegs. Mit einem Arbeitsvisum kam Al-Gamrah zu Beginn des Kriegs mit seiner Familie wieder nach Deutschland. Er arbeitete bis Ende August 2020 als Arzt in der
„Die Menschen haben alles verkauft, nur um zu überleben.“
Ali Hassan Al-Gamrah
Was ihm aufgefallen ist: „Die Straßen in den Städten sind nachts voll mit Hunden, die zum Teil Tollwut haben und tagsüber unter Autos schlafen“, erzählt Al-Gamrah weiter. Viele Straßen seien voller Schlaglöcher, heruntergekommen und unbefahrbar. Es herrsche Brennstoffmangel, es gebe keine Stromversorgung – außer eigene Sonnenkollektoren und private Generatoren –, kein Gas, kein Benzin, keinen Diesel, aber einen blühenden Schwarzmarkt.
„Die Währung ist abgewertet, die Banken sind fast alle bankrott. Die ganze Bevölkerung ist verarmt. Die Menschen haben alles verkauft, nur um zu überleben.“Die Verwaltung sei lahm gelegt, Angestellte bekämen seit mehr als vier Jahren keine Gehälter mehr. „Die Situation sieht schlimm aus.“
Die einzige Lösung in der verfahrenen Kriegssituation im Jemen sieht Al-Gamrah darin, „internationalen Druck auf alle Kriegsparteien im Land und im Ausland auszuüben, um diesen Krieg endlich mal zu stoppen, damit dieses fleißige jemenitische Volk wieder zur Ruhe kommt“. Es müsse wieder zu einem Dialog, zu einer Verhandlung kommen, fordert er. In der Pflicht sieht der Arzt die Großmächte USA, Russland und China, die Europäische Union und die Vereinten Nationen.
„Deutschland ist und bleibt ein großer Freund von diesem Land Jemen und hat auch große Bemühungen gemacht, um diesen Krieg zu stoppen“, sagt Al-Gamrah, mit Blick auf die Deutsch-Jemenitische Freundschaftsgesellschaft. „Viele Jugendliche sehen Deutschland als Vorbild.“Denn Deutschland habe immer viel Unterstützung geleistet, beim Bau von Straßen, Flughäfen, Wasserleitungen, Schulen, Krankenhäusern, im Gesundheitssystem und bei der Gründung von Institutionen.
Viele jemenitische Ärzte hätten ihre Ausbildung in Deutschland absolviert. Zurzeit gebe es fast 3000 Studenten aus dem Jemen in Deutschland. „Ich glaube, Frau Merkel hat genauso viele Anhänger im Jemen wie hier“, schließt Al-Gamrah.