Eine Art Geisterstadt
Was läuft schief in L’Aquila? – Ein Besuch zehn Jahre nach der Katastrophe
ROM - Vor genau zehn Jahren bebte mitten in der Nacht die Erde. Das Beben der Stärke 6,3 auf der Richterskala zerstörte in der mittelitalienischen Region Abruzzen zahllose Ortschaften. 309 Menschen starben, es gab rund 1600 Verletzte, mehr als 80 000 Menschen wurden obdachlos.
Auch die denkmalgeschützte Altstadt l’Aquilas, fünftwichtigste Stadt Italiens was historische Kulturgüter betrifft, wurde schwer zerstört. Fast alle historischen Gebäude wurden beschädigt oder stürzten ein. Direkt nach der Katastrophe versprach der damalige Regierungschef Silvio Berlusconi, dass vor allem L’Aquila so schnell wie möglich wieder aus den Trümmern auferstehen wird.
Doch wer heute LAquila besucht, bekommt eine Art Geisterstadt zu sehen. Die meisten Straßen sind menschenleer, ohne Geschäfte und städtisches Leben. Unbewohnte Häuser überall. Dutzende Kräne ragen in die Höhe, aber auf nur wenigen Baustellen wird kontinuierlich gearbeitet. Einige historische Monumente, die fast oder bereits fertig restauriert worden sind, wirken wie Eisbergspitzen in einem Meer unbewohnter und von Holz- und Stahlträgern abgestützter Gebäude.
Wie die mittelalterliche Basilica di Collemaggio am Stadtrand. Dank eines privaten Geldgebers, des Energieriesen ENI, wurde sie komplett restauriert und wiedereröffnet. Auch der berühmte mittelalterliche Brunnen der 99 Wasserhähne sprudelt dank privater Sponsoren wieder. Doch diese Restaurierungsarbeiten sind Ausnahmen in L’Aquila.
Warum dauern die Arbeiten an den anderen historischen Bauwerken so lange? Was funktioniert nicht auf Europas größter Baustelle? „Das Stadttheater aus dem 19. Jahrhundert ist ein gutes Beispiel für das ‚Warum‘ des so extrem langsamen Wiederaufbaus des historischen Stadtzentrums“, erklärt Beatrice Delmonte, Kunsthistorikerin an der Universität L’Aquila. „Die Arbeiten haben erst vor Kurzem begonnen, nicht etwa wegen fehlender Gelder“, sagt Delmonte. „Nein, der Grund für diese enorme Verspätung sind Prozesse gegen jene Bauunternehmer, die den Zuschlag für die Wiederaufbauarbeiten bekommen haben.“
Demo gegen die Mafia
Weil die Mafia auf der Großbaustelle L’Aquila präsent und einflussreich geworden ist, hat die Anti-Mafia-Organisation Libera im vergangenen März eine Demo in der Stadt organisiert: gegen die wachsende Präsenz von Clans und ihren Unternehmen im lukrativen Baugeschäft. In Dutzenden Fällen ermittelt deshalb jetzt auch die Staatsanwaltschaft gegen Bauunternehmen, die Mafiaclans aus Süditalien gehören sollen. An einer Vielzahl historischer Gebäude wird deshalb nicht gearbeitet, weil Gerichte erst entscheiden müssen, ob Bauunternehmen mafiafrei sind oder aber nicht. Solange das nicht geklärt ist, können neue Bauunternehmen nicht beauftragt werden. Die Folge: Die Arbeiten stehen still, die beschädigten Bauwerke gammeln vor sich hin.
Aber L’Aquilas Wiederaufbauprobleme haben auch mit der extrem langsamen Bürokratie zu tun. „In einer Kommune, die immerhin Regionalhauptstadt ist“, sagt Kunsthistorikerin Delmonte, „ist es doch unbegreiflich, dass die Regierung in Rom keine Sondergesetze verabschiedet, um den Wiederaufbau entschieden voranzutreiben.“Es gebe, sagt sie, genügend Finanzmittel für den Wiederaufbau, auch seitens der EU, „doch die Gelder werden aus verschiedenen Gründen, wie eben den Prozessen und der lahmen Bürokratie, nicht freigegeben“. Wenn in L’Aquila „so weitergearbeitet wird wie bisher, dann wird es lange, sehr lange dauern, bis in Italiens fünftwichtigstem historischen Stadtzentrum endlich wieder Leben einkehrt“.
Roms Politiker scheinen aber im Fall der Forderungen aus L’Aquila auf beiden Ohren taub zu sein. Der Wiederaufbau des historischen Stadtkerns ist keines der wichtigen Themen auf der Agenda der Regierung. Er wird noch Jahre dauern.