Wenn die blaue Seele kocht
Schalkes Goretzka soll die Lücke schließen, die Kroos bei Bayern hinterlassen hat
- Gleich doppelt hat der vergangene Sonntag dafür gesorgt, dass sich der FC Bayern München in den nächsten Monaten neben der Champions League verstärkt mit Dingen abseits des Fußballplatzes beschäftigen kann. Einerseits sind nach dem recht mühsamen, aber doch klaren 4:2 gegen Werder Bremen die inzwischen 16 Punkte Vorsprung auf Platz zwei ein derart großes Polster, dass die sogenannte Konkurrenz schon ein besonders scharfes Fernglas braucht, um den Primus noch zu sehen. Andererseits ist mit dem spätabendlichen präsidialen Machtwort von Uli Hoeneß garantiert, dass sich das aktuelle Mittelfeldpersonal noch eine ganze Weile lang fragen darf, wo denn jeder seinen Platz hat, wenn dann auch noch Leon Goretzka kommt. Der 22-Jährige werde definitiv erst im Sommer vom FC Schalke zu den Bayern wechseln, sagte der Präsident mit Nachdruck.
Dem FC Schalke bietet dies wiederum die Gelegenheit, sich im kommenden halben Jahr geliebten Ritualen hinzugeben. Als Manuel Neuer nach München wechselte, bekam der Verein kollektive Schnappatmung, bei Julian Draxlers Weggang war es ebenso – und das sind nur zwei von vielen Beispielen der Kategorie „Wer nicht immer auf Schalke spielt, muss ein Verräter sein!“Konkret hieß das für Goretzka am Sonntag beim Spiel gegen Hannover, dass ihn der Schalker Anhang mit gellenden Pfiffen begleitete und ihm zudem mit einem großen Banner die Meinung geigte: „Weder Kohle, noch Titel sind mehr wert als unser Verein! Wer das nicht schätzt, der kann sich sofort verpissen!“Unterstützt wurde diese Aufforderung vom Schalker Aufsichtsratsvorsitzenden Clemens Tönnies, der Goretzka quasi empfahl, besser gleich zu gehen und nie wieder das Schalker Trikot zu tragen.
Etwas eleganter, der Debatte aber nicht zuträglicher, äußerte sich der FCB-Vorstandsvorsitzende KarlHeinz Rummenigge. Er bezeichnete den Goretzka-Wechsel als gut für die ganze Bundesliga, weil ein starker deutscher Spieler im Land verbleibe – was außerhalb Münchens vermutlich eher niemand so sieht.
Zur Versachlichung der Debatte trug – wieder einmal – Bayern-Trainer Jupp Heynckes bei. Tönnies habe seine Aussagen ja relativiert, erklärte er in aller Ruhe. Tatsächlich legte Tönnies nach und wünschte sich, dass Goretzka die Rückrunde seines Lebens spiele. Heynckes’ Anti-Krawall-Beitrag am Sonntagabend zur Personalie Goretzka ging so weit, dass er den baldigen Neuzugang vor allem in menschlicher Hinsicht lobte: „Leon hat einen sehr guten Charakter.“Ende der Debatte. Wobei anzufügen ist: Etwas zappeln lassen hat Goretzka die Schalker schon, bis seine Zukunft endlich klar war.
Der nahende Wechsel des 22-Jährigen im Sommer hat jedenfalls das Potenzial, rund um die künftige Zusammensetzung des Bayern-Kaders noch diverse Personaldiskussionen zu befeuern. Über allem steht zwar, dass es dem FC Bayern gelungen ist, mit der Verpflichtung Goretzkas einen Fehler zu korrigieren, den sie 2014 begingen, als Toni Kroos an Real Madrid abgegeben wurde. Die alles ordnende Hand im Mittelfeld, die zuverlässige Passmaschine fehlte seither – und wurde bei Real zum Weltstar. Goretzka mit seiner anmutigen Ballbehandlung kann durchaus zugetraut werden, diese Lücke zu schließen.
Im Mittelfeld wird es eng
Gleichzeitig wird es beim Rekordmeister eng auf den Positionen im Mittelfeld. Javi Martínez, von Heynckes wieder vom Innenverteidiger zum Sechser umgeschult, dürfte im Mittelfeld bleiben. Arturo Vidal – gegen Bremen saß er lange nur auf der Bank – dürfte es schwer haben, schon länger wird über einen Abgang des Chilenen spekuliert. Auch Thiagos Zukunft scheint noch völlig offen, immer wieder wird über seine Rückkehr nach Barcelona diskutiert. Der erst vor dieser Saison für viel Geld geholte Corentin Tolisso begehrt ebenfalls einen Platz im zentralen Mittelfeld, ohne bisher zu glänzen. Dazu kommt James Rodriguez, der gegen Bremen seine Qualitäten unter anderem mit zwei Vorlagen zeigte, aber spielerisch eher direkt hinter dem Sturmzentrum daheim ist.
Warum ein Goretzka-Wechsel noch im Winter direkt ein Gewinn für die Bayern hätte sein können, war gegen Werder Bremen wieder gut zu besichtigen. Im Spielaufbau zeigten sich die Münchner weitestgehend ideenlos. Franck Ribéry dribbelte sich auf der linken Außenbahn immer wieder fest, ihm fehlte allerdings auch David Alaba im Rücken – dessen Vertreter Juan Bernat enttäuschte eher. Arjen Robben setzte auf der rechten Außenbahn nicht mehr als zwei, drei fruchtlose Aktionen, Joshua Kimmich hinter ihm erledigte seine Aufgabe seriös, aber ohne offensiven Esprit.
Goretzka hat Zeug zum Leader
Der Angriff funktionierte mit den doppelten Doppelpackern Robert Lewandowski und Thomas Müller dafür bestens. Müller schoss in einem Spiel so viele Tore wie bisher in der ganzen Saison zuvor. Sie dürfen sich darauf freuen, mit Goretzka einen Ballvirtuosen ins Team zu bekommen, der zudem schon in jungen Jahren beweist, dass er ein Anführer werden kann. Was er denn von den Pfiffen aus dem Schalke-Block gehalten habe, wurde Goretzka nach dem 1:1 gegen Hannover gefragt. Die Reaktionen seien nicht negativer gewesen, als er sie erwartet hätte. Und: Es sei gut gewesen, dass die Fans ihren Unmut über den Wechsel auf ihn projiziert hätten – und nicht auf die Mannschaft. So spricht ein Leader.