Dunkle Schatten über der Insel
Missbrauchsskandal in England: Ermittler gehen Schweigegeld-Vorwürfen nach
- Nach Institutionen wie der BBC, den Kirchen und der Polizei muss sich in Großbritannien nun auch die Milliardenbranche Fußball mit jahrzehntelang vertuschten Sexualverbrechen gegen Kinder und Jugendliche auseinandersetzen. Rund 350 Betroffene haben sich bei Behörden und dem Kinderschutzbund gemeldet, 21 regionale Polizeidienststellen ermitteln gegen mehrere Dutzend Beschuldigte.
Ins Zwielicht sind auch Traditions-Clubs wie Newcastle United und der derzeitige Spitzenreiter der Premier League, Chelsea FC, geraten. Man habe es mit „der größten Krise des Fußballs“zu tun, glaubt der Chairman der Football Association (FA), Greg Clarke.
Zunächst der linksliberale „Guardian“, später auch andere Zeitungen veröffentlichten vergangenen Monat nach und nach erschütternde Zeugenaussagen ehemaliger Jung-Talente und Profispieler. Sie beziehen sich überwiegend auf Straftaten aus den 1980er- und 1990er-Jahren und beschreiben den systematischen Missbrauch von damals elfjährigen Kindern bis hin zu 18-jährigen Jung-Profis. „Ich wollte einfach nur Fußball spielen. Aber ich war auch sensibel, und auf die sensiblen, schwachen Jungen hatte Bennell es abgesehen“, berichtete einer, der zu den Opfern Barry Bennells gehört.
FC Chelsea bezahlte Beschuldiger
Der heute 62-jährige Bennell galt im Norden Englands als einer der besten Talentsucher. Zu seinen Schützlingen bei bekannten Clubs wie Manchester City, Crewe Alexandra und Stoke City zählten spätere Größen wie Gary Speed, der 2011 freiwillig aus dem Leben geschiedene Nationalspieler und -trainer von Wales. In Crewe wurden schon Ende der 1980er-Jahre Vorwürfe gegen Bennell laut. Zur ersten Verhaftung kam es 1992, seit 1994 hat der Mann drei Gefängnisstrafen von insgesamt 15 Jahren wegen Sexualdelikten verbüßt. Derzeit bereitet die Staatsanwaltschaft ein neues Verfahren vor; dabei geht es um Übergriffe auf ein Kind vor mehr als 30 Jahren.
Noch länger her sind die Vorwürfe gegen einen einflussreichen Jugendtrainer des FC Chelsea, den längst verstorbenen Eddie Heath. Brisant wird der Fall dadurch, dass der Club einem Beschuldiger vergangenes Jahr 50 000 Pfund bezahlte. Im Gegenzug verpflichtete sich Gary Johnson zum Stillschweigen. Ob dies im Interesse des Betroffenen sowie anderer Opfer geschah oder ob der Club lediglich um sein Image besorgt war, dieser Frage soll nun im Auftrag der FA der erfahrene Kronanwalt Clive Sheldon nachgehen.
Verbandschef Clarke nennt die Vorstellung, es sei Schweigegeld gezahlt worden, „moralisch abstoßend“. In Abstimmung mit der Kripo soll Sheldon auch klären, ob die Clubs heute ausreichend für die Sicherheit ihrer Schützlinge vor Sexualverbrechern sorgen. Die Gesetzeslage legt dies nahe: Alle Erwachsenen, die mit Minderjährigen zu tun haben, müssen ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Zudem hat jeder Club einen Verantwortlichen für Jugendschutz.
Mittlerweile gibt es auch Kritik an den neuen Veröffentlichungen. Der politische Kolumnist des konservativen Daily Telegraph, Charles Moore, zog die Motive des Chelsea-Beschuldigers Johnson in Zweifel: „Warum ließ er sich vor Jahresfrist bezahlen? Und warum beschimpft er jetzt die Leute, die ihn bezahlt haben?“Der frühere Chefredakteur des einflussreichen Magazins Spectator beklagt zudem, es würden bei der Behandlung der Vorwürfe „all die alten Fehler“vergleichbarer Skandale aufs Neue gemacht: Man dürfe besorgte Anrufer bei Hotlines nicht sofort mit Opfern gleichsetzen.
Lange unter den Teppich gekehrt
Tatsächlich neigen Medien und Öffentlichkeit auf der Insel zu Hysterie, wenn es um Fälle von Missbrauch und Sexualverbrechen geht. Immerhin hat dies einen ehrenwerten Grund: Allzu lange wurden die Hilferufe echter Opfer sowie die Hinweise von Zeugen beiseite geschoben oder vorsätzlich unter den Teppich gekehrt. Das lag im Fall des früheren BBC-Entertainers Sir Jimmy Savile an dessen Prominenz; bei Gangs Pakistan-stämmiger Taxifahrer in Rotherham, Oxford und Rochdale drückten Polizei und Stadtverwaltung beide Augen zu, um den Vorwurf des Rassismus zu vermeiden.
Die Versäumnisse früherer Jahre bewogen 2013 einen Kriminaldirektor von Scotland Yard zu der erstaunlichen Aussage, seine Sonderkommission werde „allen Opfern, die sich bei uns melden, Glauben schenken“– als sei es nicht Aufgabe der Kripo, Zeugen anzuhören und auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Vergangenen Monat musste die berühmte Polizeibehörde einräumen: Im Eifer, angeblichen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war sie einem Phantasten auf den Leim gegangen. Dieser hatte Polizei, Medien und Öffentlichkeit monatelang mit erfundenen Geschichten über ein Netzwerk von Kinderschändern und -mördern im Londoner Regierungsviertel Whitehall in Atem gehalten. Unabhängig davon geht die Kripo der Grafschaft Wiltshire weiterhin Missbrauchsvorwürfen gegen den früheren, 2005 verstorbenen Premierminister Edward Heath (1970-74) nach.