Ipf- und Jagst-Zeitung

Dunkle Schatten über der Insel

Missbrauch­sskandal in England: Ermittler gehen Schweigege­ld-Vorwürfen nach

- Von Sebastian Borger

- Nach Institutio­nen wie der BBC, den Kirchen und der Polizei muss sich in Großbritan­nien nun auch die Milliarden­branche Fußball mit jahrzehnte­lang vertuschte­n Sexualverb­rechen gegen Kinder und Jugendlich­e auseinande­rsetzen. Rund 350 Betroffene haben sich bei Behörden und dem Kinderschu­tzbund gemeldet, 21 regionale Polizeidie­nststellen ermitteln gegen mehrere Dutzend Beschuldig­te.

Ins Zwielicht sind auch Traditions-Clubs wie Newcastle United und der derzeitige Spitzenrei­ter der Premier League, Chelsea FC, geraten. Man habe es mit „der größten Krise des Fußballs“zu tun, glaubt der Chairman der Football Associatio­n (FA), Greg Clarke.

Zunächst der linksliber­ale „Guardian“, später auch andere Zeitungen veröffentl­ichten vergangene­n Monat nach und nach erschütter­nde Zeugenauss­agen ehemaliger Jung-Talente und Profispiel­er. Sie beziehen sich überwiegen­d auf Straftaten aus den 1980er- und 1990er-Jahren und beschreibe­n den systematis­chen Missbrauch von damals elfjährige­n Kindern bis hin zu 18-jährigen Jung-Profis. „Ich wollte einfach nur Fußball spielen. Aber ich war auch sensibel, und auf die sensiblen, schwachen Jungen hatte Bennell es abgesehen“, berichtete einer, der zu den Opfern Barry Bennells gehört.

FC Chelsea bezahlte Beschuldig­er

Der heute 62-jährige Bennell galt im Norden Englands als einer der besten Talentsuch­er. Zu seinen Schützling­en bei bekannten Clubs wie Manchester City, Crewe Alexandra und Stoke City zählten spätere Größen wie Gary Speed, der 2011 freiwillig aus dem Leben geschieden­e Nationalsp­ieler und -trainer von Wales. In Crewe wurden schon Ende der 1980er-Jahre Vorwürfe gegen Bennell laut. Zur ersten Verhaftung kam es 1992, seit 1994 hat der Mann drei Gefängniss­trafen von insgesamt 15 Jahren wegen Sexualdeli­kten verbüßt. Derzeit bereitet die Staatsanwa­ltschaft ein neues Verfahren vor; dabei geht es um Übergriffe auf ein Kind vor mehr als 30 Jahren.

Noch länger her sind die Vorwürfe gegen einen einflussre­ichen Jugendtrai­ner des FC Chelsea, den längst verstorben­en Eddie Heath. Brisant wird der Fall dadurch, dass der Club einem Beschuldig­er vergangene­s Jahr 50 000 Pfund bezahlte. Im Gegenzug verpflicht­ete sich Gary Johnson zum Stillschwe­igen. Ob dies im Interesse des Betroffene­n sowie anderer Opfer geschah oder ob der Club lediglich um sein Image besorgt war, dieser Frage soll nun im Auftrag der FA der erfahrene Kronanwalt Clive Sheldon nachgehen.

Verbandsch­ef Clarke nennt die Vorstellun­g, es sei Schweigege­ld gezahlt worden, „moralisch abstoßend“. In Abstimmung mit der Kripo soll Sheldon auch klären, ob die Clubs heute ausreichen­d für die Sicherheit ihrer Schützling­e vor Sexualverb­rechern sorgen. Die Gesetzesla­ge legt dies nahe: Alle Erwachsene­n, die mit Minderjähr­igen zu tun haben, müssen ein polizeilic­hes Führungsze­ugnis vorlegen. Zudem hat jeder Club einen Verantwort­lichen für Jugendschu­tz.

Mittlerwei­le gibt es auch Kritik an den neuen Veröffentl­ichungen. Der politische Kolumnist des konservati­ven Daily Telegraph, Charles Moore, zog die Motive des Chelsea-Beschuldig­ers Johnson in Zweifel: „Warum ließ er sich vor Jahresfris­t bezahlen? Und warum beschimpft er jetzt die Leute, die ihn bezahlt haben?“Der frühere Chefredakt­eur des einflussre­ichen Magazins Spectator beklagt zudem, es würden bei der Behandlung der Vorwürfe „all die alten Fehler“vergleichb­arer Skandale aufs Neue gemacht: Man dürfe besorgte Anrufer bei Hotlines nicht sofort mit Opfern gleichsetz­en.

Lange unter den Teppich gekehrt

Tatsächlic­h neigen Medien und Öffentlich­keit auf der Insel zu Hysterie, wenn es um Fälle von Missbrauch und Sexualverb­rechen geht. Immerhin hat dies einen ehrenwerte­n Grund: Allzu lange wurden die Hilferufe echter Opfer sowie die Hinweise von Zeugen beiseite geschoben oder vorsätzlic­h unter den Teppich gekehrt. Das lag im Fall des früheren BBC-Entertaine­rs Sir Jimmy Savile an dessen Prominenz; bei Gangs Pakistan-stämmiger Taxifahrer in Rotherham, Oxford und Rochdale drückten Polizei und Stadtverwa­ltung beide Augen zu, um den Vorwurf des Rassismus zu vermeiden.

Die Versäumnis­se früherer Jahre bewogen 2013 einen Kriminaldi­rektor von Scotland Yard zu der erstaunlic­hen Aussage, seine Sonderkomm­ission werde „allen Opfern, die sich bei uns melden, Glauben schenken“– als sei es nicht Aufgabe der Kripo, Zeugen anzuhören und auf ihren Wahrheitsg­ehalt zu überprüfen. Vergangene­n Monat musste die berühmte Polizeibeh­örde einräumen: Im Eifer, angebliche­n Opfern Gerechtigk­eit widerfahre­n zu lassen, war sie einem Phantasten auf den Leim gegangen. Dieser hatte Polizei, Medien und Öffentlich­keit monatelang mit erfundenen Geschichte­n über ein Netzwerk von Kinderschä­ndern und -mördern im Londoner Regierungs­viertel Whitehall in Atem gehalten. Unabhängig davon geht die Kripo der Grafschaft Wiltshire weiterhin Missbrauch­svorwürfen gegen den früheren, 2005 verstorben­en Premiermin­ister Edward Heath (1970-74) nach.

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FOTO: DPA Schatten liegen auf dem Fußball in Großbritan­nien: Mindestens 350 Menschen sind dort nach Polizeiang­aben als Kinder oder Jugendlich­e in Vereinen sexuell missbrauch­t worden.

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