IMPRESSUM
— Daß das Jahr mit guten Vorsätzen anfängt, hat nichts mit Erkenntnis, Einsicht und Vernunft zu tun. Zu so was – das zeigt die Weltgeschichte – ist der Mensch kaum fähig. Nein, das ganze „Nie wieder!“- und „Ab heute!“-getue ist eine Folge davon, wie das Jahr aufgehört hat.
Anfangen tut dieses Aufhören im frühen Herbst, wenn die Wiesn als Vorwand dient, die Schranken der Zivilisation einzureißen und sich so zu gebärden, wie das Schweine nicht mal dann tun, wenn man sie massenweise in Kästen aus Beton und Stahl zwängt und mit Chemikalien und pulverisierten Artgenossen mästet. Gleich nach diesem „Volksfest“kommt es zu ersten Wellen von guten Vorsätzen: Man schwört, „nie wieder“Starkbier und Fettpampe in sich hineinzustopfen, hinterher ins Taxi zu pinkeln, die Ehefrau zu verprügeln oder mangels Taxi und Frau in einer Mülltonne an der Hackerbrücke zu nächtigen.
Ein paar Tage später will man das zumindest nicht mehr „übertreiben“oder nicht mehr „so“übertreiben, wenigstens nicht so bald oder höchstens zu besonderen Anlässen. Dann rumpeln unmittelbar nach dem Oktoberfest Megatonnen von Weihnachtssüßzeug in die Supermärkte, werden Gänse, Puten, Karpfen langsam fett. Wenn die Biergärten nicht mehr zur Exzeßüberbrückung taugen, lautet der Leitspruch, es sei jetzt „auch schon wurst“, und es wäre ja unhöflich, eine der Weihnachtsfeiern, die man im Vorfeld des „Fests“zu absolvieren hat, zu schwänzen.
Bei diesen Anlässen muß man notgedrungen saufen, weil man die Menschen sonst nicht erträgt, und spachteln, weil man glaubt, dann vertrage man das Saufen besser. Zwangsläufig gerät dadurch die Selbsteinschätzung aus der Balance. Man wähnt sich so unwiderstehlich, daß man die süße Empfangssekretärin ruhig mal anflirten darf, zumal ihre Hakennase nach dem dritten Sekt deutlich geschrumpft ist. Geht da nichts, kippt man noch ein paar Gläser, legt sich mit dem DJ an, weil er sich weigert, „Purple Rain“zu spielen, ernennt sich selbst zum DJ und spielt das „Lied“zehnmal hintereinander, patscht der Frau des Chefs beim Tanzen auf den Hintern und merkt erst da, daß man nicht mit der Frau, sondern mit dem Chef tanzt, feuert die Empfangssekretärin an, die nach lautstarker Rezitation obszöner Witze in röhrendem Bariton und einem gescheiterten Kopfstand auf dem Fensterbrett aufgrund eines unklaren „Spiels“ihren BH verloren hat und fünf Mexikaner exen muß, schleppt sie zum Kotzen aufs Klo, kauert sich daneben und stellt das etwas unscharfe Selfie auf Instagram.
Nach drei doppelten Espressi kommt man auf die originelle Idee, einem schlafenden Kollegen das Tischtuch unter dem Kopf wegzuziehen, auf dem zwar 15 Gläser und diverse Teller stehen, was aber überhaupt kein Problem ist, wenn man schnell genug zieht, ha ha. Dabei gerät man aus dem Gleichgewicht, stürzt samt Kleiderständer in irgendein Tohuwabohu, läßt die blutende Kopfwunde von der Empfangssekretärin verarzten, „tanzt“noch dreimal zu „Purple Rain“, plumpst mit ihr sowie einer halbvollen Flasche Wodka ins Auto und denkt nicht mehr daran, daß zu Hause eine Ehefrau wohnt, was aber egal ist, weil man sowieso den Weg nicht mehr findet, in Neubiberg in einem Gartenzaun landet, zu Fuß flüchtet und mal wieder in einer Mülltonne nächtigt.
So geht das weiter, in einem infernalischen Crescendo bis in den späten Dezember, wo die seit Jahrzehnten verfehdete Schwiegerverwandtschaft anrückt, sich drei Tage lang mit Megakalorien und Obstbränden zulötet und über Putin, Klimakinder, Sozialschmarotzer und die abwesende Tante aus Oberschwaben herzieht.
Dann schleppt man zentnerweise Sprengmittel aus den Kaufhäusern, stellt in einer finalen Anstrengung inmitten einer tobenden Meute in einem dröhnenden Etablissement sämtliche Verzehrrekorde an Sekt, Schnaps und Freßzeug ein, bombardiert in wabernden Giftgaswolken alles, was fleucht und kreucht, gerät aus nicht rekonstruierbarem Anlaß in einen eskalierenden Streit mit vier unbekannten
Aber ein Jahr ist immer nur ein Jahr, von dem man wenig weiß.
Passanten, den man mit einem schnellen Erstschlag ruckzuck beenden zu können glaubt, erwacht an einem strahlenden Neujahrsnachmittag in der Notaufnahme, liest die drei Dutzend SMS, die man irgendwelchen Altgeliebten (sowie der Empfangssekretärin) geschickt und die irgendwelche Ehemänner (sowie der Chef ) beantwortet haben – und ist endlich reif für Einsicht, Vernunft und den Vorsatz, daß ab heute alles anders werde. Weil jetzt ein neues Jahr ist und bla.
Aber ein Jahr ist immer nur ein Jahr, von dem man wenig weiß. Außer daß es sehr wahrscheinlich ein Oktoberfest und eine Weihnachtszeit enthalten wird.