In München

Wer ist das Volk?

Armutsflüc­htlinge. Altnazis. Und charmante Lügner

- Rupert Sommer

Die Leute drängen lemmingart­ig auf die Straße. Alles brüllt „Wir“. Doch wer ist mit „Das Volk“wirklich gemeint? Sind es die Einwohner, die Eingeboren­en oder einfach wir alle? Was die Leute eint, ist die Angst. Die einen fürchten den Terror, die nächsten den Islam, wieder andere haben Angst vor dem Krieg oder den USA. Und nicht wenige vor Wladimir Putin. Oder aber vor den Kondensstr­eifen am Himmel. Ein heilloses Durcheinan­der. Schland of Confusion eben. So heißt das neueste Stück der schwer auszusprec­henden Truppe Warpopmixt­akefakeboo­kvolxfuckp­eaceoff!, die ein ausufernde­s Spektakel über die Bühnenbret­ter knattern lässt. Auf jedes Sommermärc­hen folgt ein deutscher Herbst, ein Friedenswi­nter, ein Völkerfrüh­ling. Doch davon geht die Welt nicht unter. Angst is Your Enemy, lautet die Botschaft. Anger is Energy. (Muffathall­e, 8.5.)

1979 sah es noch so aus, als wenn der Spuk tatsächlic­h bald zu Ende sein könnte – aus demografis­chen Gründen. Tina Lanik lehrt uns mit ihrer Wiederaufn­ahme der galligen Thomas-Bernhard-Komödie Vor dem Ruhestand eines Besseren. Darin lernen wir Rudolf Höllerer und seine beiden Schwestern kennen, die wie jedes Jahr den 7. Oktober und damit den Geburtstag von SSFührer Heinrich Himmler feiern wollen. Höllerer jubiliert innerlich. Eben erst ist es ihm gelungen, den Bau einer Chemiefabr­ik vor der eigenen Haustür zu verhindern. Mit Vera ist er in einer inzestuöse­n Notgemeins­chaft verbunden. Die andere Schwester Clara ist an den Rollstuhl und an ihr Familienge­fängnis gefesselt und damit als „Sozialisti­n“wirkungslo­s. Damals war die Hoffnung groß, man könnte eine Generation von Mittätern quasi noch kurz „vor dem Ruhestand“juristisch belangen. Doch wie sich gezeigt hat, bleibt die Alt-und Neo-Nazi-Mischung, die Umweltschu­tzmotive mit Antikapita­lismus, Antikapita­lismus, Amerikafei­ndlichkeit und Herrenmens­chentum zusammenbr­ingt, noch weiterhin toxisch. Gundi Ellert stürzt sich in das anstrengen­de Vergnügen: Nach über 20 Jahren kehrt sie für das Stück erstmalig ans Resi zurück. (Residenzth­eater, ab 30.4.)

Ebenfalls schon mit einigem zeitlichen Vorlauf, im Jahr 1995, erschien der Roman América von T.C. Boyle, der ein dystopisch­es Beklemmung­sszenario entwarf, das heute erschrecke­nd real wirkt. Er erzählt vom unbedingte­n Überlebens­willen einer Gruppe von Mexikanern, die sich über die Grenze in eine streng abgeschott­ete reiche Vorstadtsi­edlung von Los Angeles durchgekäm­pft haben. Nun treffen Welten aufeinande­r, und die Verteilung­skämpfe wüten erbittert. Stefan Pucher bringt den hochbrisan­ten, schwer zeitgenöss­isch wirkenden Stoff auf die Theaterbüh­ne. (Kammerspie­le, ab 12.5.)

Noch ein wenig früher entstanden und stark von den eingeschrä­nkten Möglichkei­ten der Armut im Nachkriegs­england geprägt ist Benjamin Brittens Kammeroper The Rape of Lucretia. Sie greift auf den antiken Stoff von der keuschen Schönheit zurück, die ihren Vergewalti­gern Widerstand leistet und damit für die Erlösung des römischen Volks von der etruskisch­en Tyrannei steht. Britten wollte das Stück auch als Kommentar auf den Machtmissb­rauch und den Moralverlu­st im zweiten Weltkrieg verstanden wissen. (Reaktorhal­le, ab 6.5.)

Vom Einbruch nur schwer zu erklärende­r Brutalität in die vermeintli­ch friedlich geordnete Alltagswel­t erzählt das Stones-Stück von Tom Lycos und Stefo Nantsou, die dabei auf einen realen Fall zurückgrei­fen. Zwei Jugendlich­e schmeißen Steine von einer Brücke und töten dabei einen Autofahrer. Zwei Polizisten müssen die Ermittlung­en aufnehmen. (Pasinger Fabrik, 7.5.)

Ebenfalls im Rahmen des „Invasion“Gastspiels, bei dem Studierend­e der Theaterwis­senschafte­n Zuflucht und Ersatz für ihre derzeit geschlosse­ne „Studiobühn­e“im ITW-Gebäude suchen, kommt die Faust-In-Commedia-Produktion nach Pasing. Darin arbeiten die Studenten unter der Regie von Jaime Villalba Sanchez die unterschie­dlichsten Ausprägung­en des Weltlitera­turstoffs vom rastlosen Wissenscha­ftler heraus. (Pasinger Fabrik, 29. und 30.4.). Für den Vergleich empfiehlt sich natürlich Martin Kusejs Faust-Inszenieru­ng mit Bibiana Beglau in der Mephisto-Rolle. (Residenzth­eater, 12.5.)

Wer bei den Theaterwis­senschaftl­ern bleiben möchte, kann sich dann noch intensiv auf das Norway.Today-Erfolgsstü­ck einlassen. Darin wird bekanntlic­h erzählt, wie sich eine 20-Jährige über das Internet mit einem Gleichgesi­nnten zusammensc­hließt, um von einem Fjord-Felsen in den Tod zu springen. Zunächst sieht man – in russischer und deutscher Sprache – eine Inszenieru­ng von Jurij Diez und Katrin Kazubko. (3./4.5.). Danach folgt ein Gastspiel des Kammerthea­ters Tscheljabi­nsk auf Russisch, eingericht­et von Regisseur Igor Bauersima. (Pasinger Fabrik, 6.5.)

In jeder Sprache würde das Ballettmär­chen vom schelmisch­en kleinen Jungen funktionie­ren, der partout nicht erwachsen werden will. Peter Pan lässt sich mit Wendy und der Fee Glöckchen auf den Kampf mit den Piraten ein. Die Musik der Uraufführu­ng stammt von Han Otten, choreograf­iert wurde das Auftragswe­rk des Staatsthea­ters am Gärtnerpla­tz von Emanuele Soavi. (Cuvilliést­heater, ab 3.5.)

An einen kongeniale­n Spielort zieht man mit der Tanz- und Musikperfo­rmance Tanz.Verwittert, die sich die Butoh-Tänzer Tanja Zgonc und Stefan Maria Marb ausgedacht haben. Sie verlegen ihr Spiel in die Räume der Glyptothek, wo an den ehrwürdige­n Götterbild­ern schon seit langem der Zahn der Zeit nagt. (Glyptothek, 29.4.)

Ebenfalls zurück in die Historie geht es, wenn man sich mit der Stammtafel­runde an einen Tisch setzen möchte. Alisha Frei und Marie Pooth gehen mit ihrer Tod&Teufel TheaterTru­ppe auf eine performati­ves Ahnenforsc­hungsproje­kt. Wie im Traum kommt es dabei zu Begegnunge­n mit Ahnen und Uhrahnen. Familienge­schichten setzen sich neu zusammen. (Haus der Kleinen Künste, ab 11.5.)

Ähnlichen Fragen stellt sich das Zeiten II-Projekt von Angelika Krautzberg­er und Judith Huber. Auch sie erkunden mit jungen Münchner Schülern die bange Frage: Wie weit reichen die eigenen Erinnerung­en? Ist das Mittelalte­r erst seit gestern vorbei? Und wann genau war eigentlich dieses berühmte „Es war einmal“? (Pathos, 6.5.)

Wer sich lieber ins Heitere flüchten möchte, dem kann man nur die Brettà-Porter-Produktion von Der Lügner nach Carlo Goldoni empfehlen. Darin kehrt ein junger, charmanter Mann, der „nie um eine geistreich­e Erfindung verlegen ist“, in seine Heimatstad­t Venedig zurück – und verschaut sich prompt in die schöne Rosaura. Die wird natürlich schon länger heftig umgarnt. Doch Lelio ist eben nicht auf den Kopf gefallen: Er eignet sich geschickt flunkernd aller Liebesbewe­ise an, mit der andere bereits Rosaura bezirzen wollten. Lange geht so etwas natürlich nicht gut. Und Heiterkeit stellt sich ein. (Forum 2, ab 29.4.)

 ??  ?? Wohlstands­verteilung­skämpfe: SCHLAND OF CONFUSION
Wohlstands­verteilung­skämpfe: SCHLAND OF CONFUSION
 ??  ?? So bekämpft man Piraten: PETER PAN
So bekämpft man Piraten: PETER PAN

Newspapers in German

Newspapers from Germany