In Ulm entsteht eine ganz besondere Werkstatt
Projekt Neben dem Fernbusbahnhof in Ulm-Böfingen baut die Lebenshilfe Arbeitsplätze für 162 Menschen mit psychischen Erkrankungen. Ist das ein Vorbild für andere Firmen?
Ulm Die Wahrscheinlichkeit in seinem Leben, an einer behandlungsbedürftigen Depression zu erkranken, liegt nach den Worten von Dr. Jürgen Heinz, dem Vorstandsvorsitzenden der Lebenshilfe-Donau-Iller, bei 25 Prozent. Die Leidtragenden dieser Volkskrankheit sind auch die hauptsächlichen „Klienten“der neuen „Werkstätte für Menschen mit psychischer Erkrankung“, die für 9,6 Millionen Euro in der Eberhard-Finckh-Straße in Ulm-Böfingen entsteht.
Außergewöhnlich gute Geräuschdämmung, Ruheräume für Mitarbeiter, perfekte Barrierefreiheit, ein ausgeklügeltes Lichtkonzept, eine Dachterrasse, Gymnastikraum und eine öffentliche Cafeteria, die eine Arbeitsstätte auch zum Ort der Begegnung macht. „Eigentlich sollte jeder Arbeitsplatz in Deutschland so ausgestattet sein“, sagt Heinz. In Wahrheit seien es aber nur einige wenige von Tech-Giganten wie Google. Und künftig auch die 162 der Lebenshilfe in Ulm-Böfingen.
Jedem Menschen würden derartige Bedingungen guttun. Doch im Falle von psychischen Erkrankungen gebe es dazu eigentlich keine Alternative. Heinz: „Wenn wir sehen, wie viel Zulauf wir haben, sehen wir, dass wir in einer kranken Gesellschaft leben.“Bei der Lebenshilfe steht aber nicht die maximale Wertschöpfung der Arbeit in minimaler Zeit als Ziel geschrieben. In der Selbsthilfe-Einrichtung geht es darum, dass Menschen durch eine sinnvolle Tätigkeit ihren verloren gegangenen Rhythmus des Lebens wiederfinden.
Ein Rhythmus, der offenbar immer früher verloren geht: Vor 20 Jahren suchten die Menschen ab einem Alter von 45 Jahren Hilfe bei der Lebenshilfe. Nun fingen die Probleme oft schon mit 25 Jahren an. Ein Grund sei eine gestiegene Erwartung in der Gesellschaft, die nur auf Leistungsoptimierung setze: „Der eine liebt es, 50 Stunden in der Woche zu arbeiten, der andere kann es einfach nicht“, sagt Heinz. Was schlimm sei: Menschen, die diesen Leistungsdruck nicht aushalten, würden erst krank und dann stigmatisiert. Dieser Stigmatisierung soll auch mit einem frischen Bau an markanter Stelle gegenüber des Fernbusbahnhofs entgegengewirkt werden. Nicht zuletzt mit einer öffentlichen Cafeteria. Menschen mit Beeinträchtigung holt die Lebenshilfe damit nicht zum ersten Mal in die Mitte der Gesellschaft: Klienten der Einrichtung sind etwa an vorderster Front im Neu-Ulmer CapSupermarkt, dem Donauschiff Ulmer Spatz oder dem Café am Kindermuseum in Neu-Ulm. Corona belaste die ohnehin beeinträchtigten Klienten zusätzlich, so Heinz. Doch mit 90 Prozent der Klienten und 75 Prozent der Mitarbeiter seien die Einrichtungen „so gut wie durchgeimpft“, freut sich Heinz. Die fehlenden Prozentpunkte seien in großer Mehrheit Vorerkrankungen zuzuschreiben, die eine Impfung unmöglich machen würden. Impfverweigerer gebe es kaum. Allerdings seien in jüngster Zeit vermehrt Infektionen bei Jugendlichen festgestellt worden, für die noch keine Impfung zugelassen ist.
Der Neubau in Böfingen wird knapp 3900 Quadratmeter groß sein und die an derzeit mehreren Standorten verteilten Bereiche Textil, Holz und Elektro zusammenfassen. Die Fertigstellung ist für Dezember kommenden Jahres vorgesehen. Bereits im vergangenen Jahr wurde das alte Gebäude aus den 60er-Jahren abgerissen. Für den Neubau hat sich die Lebenshilfe Expertise aus den eigenen Reihen geholt. Rudolf Bader, der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Lebenshilfe, zeichnet mit seinem Unternehmen Prima-Bau mit Sitz in Bellenberg verantwortlich für den Neubau. Bader ist durch eigene familiäre Betroffenheit der Lebenshilfe seit Jahrzehnten verbunden, wie Heinz betont.
Dadurch habe sich seine Firma zu einem Spezialisten für Bauten mit besonderen Anforderungen entwickelt. Das 9,6-Millionen-Euro-Gebäude wird mit 2,6 Millionen an Fördergeldern aus unterschiedlichen Töpfen finanziert.