Vom Lügen als Massenvernichtungswaffe
Stockholm Handke und Olga Tokarczuk haben ihre Nobelpreis-Vorlesungen gehalten. Kosovo boykottiert Verleihung
Stockholm Die eine sprach über drängende Probleme der Menschheit, der andere über ein zentrales Werk seines Schaffens: Die beiden Literaturnobelpreisträger Olga Tokarczuk und Peter Handke haben sich in ihren Nobelvorlesungen auf völlig unterschiedliche Themen konzentriert. Handke, dessen Auswahl als Preisträger für das Jahr 2019 eine hitzige Debatte verursacht hatte, richtete sein Hauptaugenmerk in seinem Vortrag am Samstag in der Schwedischen Akademie auf sein Drama „Über die Dörfer“. Darin sagt die Figur Nova den zentralen Satz: „Der ewige Friede ist möglich.“
„Spiele das Spiel. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts“, zitierte Handke aus seinem 1981 erschienenen Drama,
das von einem Konflikt zwischen drei Geschwistern und dessen friedlicher Lösung handelt. Handke sprach über Erzählungen seiner Mutter, die letztlich den Anstoß zu seinem fast lebenslangen Schaffen als Schreiber gegeben hätten. Seinen Vortrag beendete er mit einem Gedicht des schwedischen Literaturnobelpreisträgers Tomas Tranströmer: „Romanische Bögen.“
Die Kontroverse um die SerbienSicht Handkes blieb für den Abend in der Akademie unerwähnt. Aber am Samstag verlautete aus Stockholm, dass die Botschafterin des Kosovo in Schweden, Shkendije Geci Sherifi, wegen Handke nicht an der Nobelpreisverleihung teilnehmen werde. Sherifi boykottiere die Veranstaltung „wegen des umstrittenen Nobelpreisgewinners Peter Handke, eines Freundes und Anhängers der Politik von Milosevic“,
schrieb der kosovarische Außenminister Behgjet Pacolli nach Angaben des schwedischen Senders SVT auf Facebook. Alle nach Schweden entsandten ausländischen Botschafter werden traditionell zu der Preisverleihung im Stockholmer Konzerthaus eingeladen.
Tokarczuk hatte sich in ihrem Vortrag zuvor etwas ganz anderem gewidmet: der Schnelllebigkeit der heutigen Welt und den damit verbundenen Problemen. Die Welt sei ein Stoff, den wir täglich auf den großen Webstühlen von Informationen, Diskussionen, Filmen, Büchern, Gerede und kleinen Anekdoten webten, sagte die Polin. „Dank des Internets kann fast jeder an diesem Prozess teilnehmen, mit Verantwortung oder ohne, mit Liebe oder hasserfüllt.“In diesem Sinne werde die Welt aus Worten gemacht. Dabei würden auch Ideen mit absoluter Sicherheit vorgetragen, wonach die Erde flach, der Klimawandel Schwachsinn und die Demokratie nicht in Gefahr seien.
„Die Kategorie der Fake News wirft neue Fragen darüber auf, was Fiktion ist“, so Tokarczuk. Fiktion habe das Vertrauen der Leser verloren, weil das Lügen zu einer gefährlichen Massenvernichtungswaffe
geworden sei. Die Welt müsse nun ihren Weg durch den Klimanotstand und die politische Krise finden. Gier, fehlender Respekt vor der Natur, ein Mangel an Vorstellungskraft und Verantwortungsbewusstsein hätten aus der Welt ein Objekt gemacht, das verbraucht und zerstört werden könne. „Das ist es, warum ich glaube, dass ich Geschichten erzählen muss, als wäre die Welt eine lebende, einzelne Einheit, die sich konstant vor unseren Augen formt, und als ob wir ein kleiner und zugleich mächtiger Teil davon sind.“
Die Schwedische Akademie hatte nach ihrem Skandaljahr 2018 im Oktober diesmal gleich zwei Literaturnobelpreisträger verkündet: Tokarczuk erhält den Preis für das Jahr 2018, Handke für 2019. Beide Preise werden am Dienstag in Stockholm vergeben. (dpa)