Leitartikel
Die SPD träumt von einer furiosen Aufholjagd. Eine realistische Chance, die neue Regierung anzuführen, hat der Merkel-Herausforderer Schulz nicht mehr
Demoskopen können irren. Umfragen sind keine Ergebnisse. Fast jeder zweite Wähler hat sich noch nicht festgelegt. Wahlen werden im Endspurt entschieden, die heiße Phase des Wahlkampfes beginnt erst. Ja, es gibt gute Gründe für die SPD, auf eine Wende in letzter Minute zu hoffen. Gelaufen ist das Rennen erst am Abend des 24. September.
Trotzdem sieht es so aus, als ob dieser bisher langweilige Wahlkampf bereits entschieden ist. In allen Umfragen wirkt der große Vorsprung der CDU/CSU seit drei Monaten wie in Stein gemeißelt. Die Union liegt nahe bei 40 Prozent; die SPD abgeschlagen bei 22 bis 24 Prozent. Schröders Aufholjagd von 2005 mag der SPD noch ein bisschen Mut einflößen. Doch es müsste schon ein politisches Erdbeben geschehen, wenn die SPD noch einmal auf Schlagdistanz zu Angela Merkel gelangen will. Die Kanzlerin sitzt nach zwölf Jahren fest im Sattel und liegt auch im Vergleich mit ihrem Herausforderer Martin Schulz weit vorn. Im Volk ist keine Wechselstimmung spürbar.
Nach menschlichem Ermessen hat die SPD keine realistische Chance mehr, stärkste Kraft zu werden und das Kanzleramt zu erobern. Schulzens Traum ist ausgeträumt, zumal ja – da FDP und AfD in den Bundestag einziehen werden – auch eine rot-rot-grüne Mehrheit außer Reichweite ist. Es war richtig, dass der furios gestartete und ebenso rasch wieder abgestürzte Kandidat Schulz nicht nur auf Platz, sondern auf Sieg gespielt hat. Nun, da das große Ziel offenbar verfehlt wird, kommt es für die SPD darauf an, der Union noch ein paar Prozent abzuknöpfen und sich wenigstens die Tür für eine neue Große Koalition offenzuhalten. Andere Machtoptionen gibt es nicht mehr. Merkel hingegen dürfte reichlich Auswahl haben. Sie kann mit der SPD weitermachen oder mit der FDP und den Grünen regieren – sei es in einer kleinen, sei es in einer „Jamaika“-Koalition. So unterschiedlich sind die Positionen der Parteien der Mitte nicht mehr, als dass sich keine gemeinsame Basis finden ließe. Die Deutschen mögen Große Koalitionen. Der Demokratie jedoch täte eine starke Opposition gut. Bei erdrückenden Mehrheiten gerät der Disput um den rechten Weg zu kurz. Lebendiger Parlamentarismus bietet Alternativen und winkt nicht durch, was die Regierung will. Es ist ein alarmierendes Zeichen, dass das in der Bevölkerung verbreitete Unbehagen an der Zuwanderungs- und Euro-Rettungspolitik im Bundestag keinen adäquaten Ausdruck findet.
Angela Merkel ist nicht unbesiegbar. Sie hat – zum Entsetzen vieler Anhänger – 2015 die Kontrolle über die Massenzuwanderung verloren und erweist, flexibel, wie sie ist, dem Zeitgeist um der Macht willen gerne ihre Reverenz. Sie legt nicht dar, wie Deutschland in fünf oder zehn Jahren aussehen soll. Ein Herausforderer vom Format Schröders hätte diese Angriffsflächen womöglich nutzen können. Schulz hat die Kanzlerin nicht zu fassen bekommen. Er zieht mit einem Bauchladen voller teurer Versprechen übers Land und feuert neuerdings verzweifelt eine Salve nach der anderen ab, ohne dass seine Kernbotschaften noch erkennbar wären. Schulz ist ein guter alter Sozialdemokrat mit dem Herz am rechten Fleck, der freilich auch nicht frischer und innovativer wirkt als die ewige Kanzlerin. Die Leute fragen sich, was er tatsächlich besser machen könnte. Für die Kritiker der Merkel’schen Flüchtlings- und Europapolitik ist er sowieso keine Alternative. Die sturmerprobte Kanzlerin hingegen, ein Fels in der Brandung ungewöhnlich vieler Krisen, punktet mit ihrer Erfahrung und der unbestritten guten wirtschaftlichen Lage des Landes. All dies erklärt, warum mit Angela Merkel über den 24. September hinaus zu rechnen ist.
Was die SPD jetzt noch schaffen kann