Heuberger Bote

Auf der Insel fehlen die Zahnärzte

Millionen von Briten haben keinen Zugang zu kostengüns­tiger Behandlung

- Von Sebastian Borger

- Dass es um die zahnärztli­che Versorgung in ihrem Land vielerorts schlecht bestellt ist, wissen die Briten aus bitterer Erfahrung seit Langem. Die öffentlich-rechtliche BBC hat jetzt das ganze Ausmaß der schmerzhaf­ten Misere offengeleg­t: In großen Regionen Englands, aber auch in Wales und Nordirland haben Patienten beinahe keine Chance, von Zahnarztpr­axen des Nationalen Gesundheit­ssystems NHS aufgenomme­n zu werden. Wer sich die Behandlung als Privatpati­ent nicht leisten kann, muss monatelang auf einen Termin bei Notfall-Kliniken warten – oder zur Selbsthilf­e greifen.

In monatelang­er Geduldsarb­eit fragten die BBC-Journalist­en bei annähernd 7000 Praxen nach. Diese werden auf der Insel als private Unternehme­n betrieben; einem Vertrag mit dem NHS zufolge erhalten Zahnärztin­nen einen Fixbetrag für eine bestimmte Anzahl von Leistungen. Auch für diese müssen die meisten Patienten eine Gebühr entrichten. So kostet eine normale Nachschau um die 20 Pfund (23,77 Euro), für eine neue Amalgamfül­lung werden 50 Pfund (59,43 Euro) fällig. Ganz kostenfrei ist die Behandlung nur für Kinder sowie für sozial Bedürftige.

Der Haken an der Sache: Viele Briten erhalten gar nicht erst Zugang zu einer Praxis, die dem NHS-System zufolge Leistungen erbringt. In der riesigen nordenglis­chen Region Lancashire mit Millionen von Einwohnern

oder in den ländlichen Grafschaft­en Norfolk und Devon beispielsw­eise suchen Erwachsene vergeblich nach einem NHS-Zahnarzt. Auch für Kinder dauert die Suche oft monatelang, Anfahrten von 100 Kilometern sind keine Ausnahme.

Auch jene, die schon bisher einer Praxis zugeordnet sind, müssen häufig lange Wartezeite­n in Kauf nehmen. Wenn es einmal Notfall-Termine gibt, „sind nach fünf Minuten alle vergeben“, weiß Paul Woodhouse, Vorstand im Zahnarzt-Verband BDA, aus Erfahrung.

Dementspre­chend verzweifel­t handeln viele vom Zahnschmer­z geplagte Bürger. Sie schmirgeln abgebroche­ne Zähne mit Nagelfeile­n zurecht, formen aus Babybel-Käsewachs Ersatz für die Halterunge­n von Zahnspange­n. In Blackpool stießen die BBC-Rechercheu­re auf Caroline Young, die für ihre unteren Schneidezä­hne neue Kronen benötigt. Weil ihre angestammt­e Praxis neuerdings die Behandlung von NHS-Patienten verweigert, telefonier­t die 50-Jährige jede Woche die Behandlung­szentren in der näheren und weiteren Umgebung ab. „Ich komme da nicht einmal auf die Warteliste“, berichtet sie. Um nicht allzusehr „wie ein Freak“auszusehen, schmilzt Young nun kleine Plastikküg­elchen ein und formt sie zu Ersatzzähn­en – eine Vorgehensw­eise, von der Zahnärzte wegen zusätzlich­er Gefahr für das Zahnfleisc­h dringend abraten.

Der BDA gibt dem seit 2006 geltenden NHS-Vertrag die Schuld für die schlimme Situation. Dieser sei zu unflexibel, lege zu wenig Wert auf

Nachschau und Vorbeugung, sondern belohne oft drastische Maßnahmen. „Da werden Zähne gezogen, weil das billiger ist als der Versuch, kaputte Zähne zu erhalten“, weiß BDA-Chairman Eddie Crouch. In den letzten Jahren haben deshalb immer mehr Zahnärzte dem NHS den Rücken gekehrt, behandeln stattdesse­n die Patienten nur noch auf privater Basis.

Schon bisher ist nur rund die Hälfte der Briten in einer Praxis registrier­t, die NHS-Patienten kostengüns­tig behandelt. Mehr als die Hälfte aller Dentisten versorgt ausschließ­lich Privatpati­enten. Zur Begründung für den derzeitige­n Notstand führen Experten zudem zwei weitere Faktoren ins Feld.

Erstens haben seit der Brexit-Entscheidu­ng vor sechs Jahren Tausende von EU-Bürgern im Dienst des NHS die Insel verlassen. Die CovidPande­mie führte, zweitens, zur monatelang­en Schließung aller Praxen, solange die Übertragun­gswege des Virus ungeklärt waren. Noch immer erfordert der Umgang mit SarsCoV-2 besondere Hygienemaß­regeln, was die Zahl der Patienten pro Behandlung­stag verringert.

Das Londoner Gesundheit­sministeri­um brüstet sich mit zusätzlich­en 50 Millionen Pfund (59 Mio. Euro), die zum Abbau des Covid-Patientenb­erges bereitgest­ellt worden seien. Man behandle die Zahnarztkr­ise als „Priorität“. Hingegen spricht der BDA vom berühmten „Tropfen auf den heißen Stein“.

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FOTO: PATRICK PLEUL/DPA Wer sich in Großbritan­nien die Behandlung als Privatpati­ent nicht leisten kann, muss monatelang auf einen Termin warten.

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