Mit den Augen anderer sehen
Ein Fotoprojekt lädt zum Perspektivwechsel ein – Es zeigt, wie Menschen mit Sehbehinderung ihre Umwelt wahrnehmen
Celina und Esma versuchen es mit dem QR-Code. „Ich komm’ einfach nicht rein.“Celina kichert und ermuntert die Freundin: „Probier’s nochmal“. Immer wieder schaut Esma auf dem Smartphone nach, ob es geklappt hat. Dazu zieht sie ihr Handy direkt ans rechte Auge. Auf dem linken ist sie blind, also so gut wie. „Ein bisschen hell und dunkel hab’ ich noch“, erklärt die 17-Jährige. Und das rechte? „Da hab’ ich zwei Prozent.“
Nochmal von ganz vorn und vor allem nochmal neu anmelden. Diesen Tipp erhält die Schülerin am SBBZ, der Schule mit Förderschwerpunkt Sehen in Baindt bei Ravensburg, die zur Stiftung St. Franziskus gehört, von ihrem Direktor Marcus Adrian. Und prompt klappt’s auch. „Ich bin drin“, jubelt Esma und zieht mit ihrer Freundin los, zum ersten Bild, zur ersten Geschichte einer Mitschülerin. Die kennen sie eigentlich schon, aber heute ist es etwas Besonderes.
Esma und ihre 14-jährige Freundin sind aufgeregt, weil sie selbst Teil dieses Fotoprojekts sind. Celina und Esma haben sich hübsch gemacht, sind stolz auf die großformatigen Bilder, die von ihnen gemacht worden sind, und präsentieren sich gern davor. Sie gehören zu einer Ausstellung, die derzeit in der Turnhalle ihrer Schule in Baindt aufgebaut ist und danach auf Wanderschaft durch ganz Baden-Württemberg gehen soll. Außerdem sind einige Besucher da, Fachleute, Interessierte, Lehrer und Eltern. Vom Fernsehen soll auch noch jemand kommen.
Die Idee zu der Ausstellung „Mit anderen Augen sehen – mit den Augen anderer sehen“hatte Schulleiter Adrian schon vor vielen Jahren. „Ich hab’ mir immer überlegt, wie meine Schülerinnen und Schüler tatsächlich sehen und wie man das vermitteln könnte. Das Wissen um die Einschränkungen ist schließlich die Grundlage für unsere pädagogischen und therapeutischen Angebote.“Zur Realisierung wandte er sich an Angelika Benz. Sie war Orthoptistin der Einrichtung, also Fachfrau für funktionales Sehen. Zusammen mit der Fotografin Simone Stadler, mit Sonderpädagogen, Grafikern und Filmemachern wurde die Ausstellung konzipiert. Die Vorbereitungen zogen sich über vier Jahre, „weil der Prozess im Laufe der Zeit immer komplexer wurde“, sagt Adrian. Von „Aktion Mensch“wurde das Projekt mit 50 000 Euro bezuschusst.
Zwölf Kinder und Jugendliche erzählen im Rahmen dieser Ausstellung etwas über sich, und die Besucher erfahren etwas über ihre Sehbehinderung. Zwölf von insgesamt 95 jungen Menschen, die das SBBZ Sehen in Baindt besuchen. 20 davon wohnen im Internat. Rund 100 weitere werden über die Beratungsstelle in inklusiven Settings betreut. Die meisten dieser Kinder und Jugendlichen haben eine Mehrfachbehinderung. „Gerade dann“, so Adrian, „wird eine Sehbehinderung oft zu wenig beachtet.“Das Sehvermögen variiert, was bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler sehr unterschiedliche und individuelle Assistenzleistungen benötigen. Aber alle – da sind sich Eltern, Betreuer und Lehrer einig – brauchen vor allem: Verständnis,
Einfühlungsvermögen und die fachliche Kompetenz der Mitarbeiter. „Und da hilft es gewaltig“, beteuert Adrian, „wenn man sich vorstellen kann, wie Esma oder Celina ihre Welt visuell wahrnehmen“. Und fügt hinzu: „Die Fördermöglichkeiten des SBBZ Sehen in Baindt sind bereits äußerst umfassend, dennoch möchten wir anregen, funktionales Sehen in die Ausbildung von Lehrkräften und Therapeuten mit hineinzunehmen, damit das Wissen auch den Kindern zugutekommen kann, die nicht die Möglichkeit haben, das SBBZ zu besuchen.“
Esma hat ihre Sehbeeinträchtigung von Geburt an. Bei Celina begann alles im Alter von fünf Monaten. „Da hatte ich einen Gehirntumor und dann zwei Jahre Chemo.“Ihre Augen, so erzählt die Schülerin am
SBBZ ganz offen und ehrlich, hätten „das natürlich nicht mitgemacht“. Sie kennt auch den optischen Fachausdruck ihrer Sehbehinderung: „Starke Gesichtsfeldeinschränkung mit Schachtel- beziehungsweise Röhrenblick.“
Was das genau heißt, kann jeder Besucher selbst erleben. Es beginnt damit, dass man mit geschlossenen Augen via Audioguide oder eigenem Smartphone der Beschreibung eines Porträtfotos lauscht. Ein inneres Bild entsteht. Danach, in einem zweiten Schritt, wird das Bild gezeigt, wie es die porträtierte Person mit ihrer Sehbehinderung sieht. Wer mag, kann sich dazu Erklärungen rund um die jeweilige Sehbeeinträchtigung anhören. Auf einem dritten und letzten Bild ist dann das unbearbeitete Originalporträt zu sehen. „Spannend ist jetzt“, so Adrian, „wie sich das innere erste Bild von der dritten Wahrnehmung unterscheidet – und ob sogar etwas Neues entdeckt wird.“
Maike, Jane, Elif, Florinel, Esma, Celina und weitere: Zwölf Kinder und Jugendliche haben mitgemacht und sich fotografieren lassen – an ihren Lieblingsplätzen. Esma beispielsweise mit einem Fotoapparat – „ich liebe es, Selfies zu machen“– unter den Blüten beim Mandelbaum vor der Cafeteria. Celina mit ihrer Ukulele in der Kapelle. Warum gerade da? „Weil ich da gerne bin und mich mit Musik und mit Kirche beschäftige.“Die Fotos sagen viel aus. Über die Kinder und ihre Träume. „Aber auch über den Betrachter“, weiß Adrian, „denn Sehen passiert im Kopf und macht also auch etwas mit uns.“
Wie sehen die beiden Mädchen also? Bei Esma sind die rosa Blüten nur ganz am Rand und als Farbmischung erkennbar. Bei Celina: Viel Verschwommenes und Graues, in der Mitte wird es ein bisschen klarer. Ein Gesicht, aber von wem? Für normale Augen ist das nur schwer erkennbar. Profis haben die Bilder erstellt, auf Grundlage der langjährigen Untersuchungen der Orthoptistin, den Diagnosen der Augenärzte und den Beschreibungen der Mädchen.
Noch besser erfahrbar werden die Sehbehinderungen, wenn die eigens dafür entwickelte VR-Brille aufgesetzt wird: Ein Fußgängerüberweg in einer Einkaufsstraße, gegenüber eine Ampel, dahinter viele mehrstöckige Gebäude, im Erdgeschoss Geschäfte mit bunten Schaufenstern. Passanten gehen vorbei, manche langsam, manche schnell. Durch den wechselnd bewölkten Himmel ändern sich die
Farbkontraste dauernd. Normal Sehende finden sich problemlos zurecht. Celina nicht. Wählt man „So sieht Celina“, ist der Blick durch die VR-Brille grau und verschwommen, Schatten bewegen sich – das müssen wohl die Passanten sein. Nur wenn die Ampel im Blickzentrum liegt, kann man sie erkennen beziehungsweise erahnen. Grün oder rot? Nicht sichtbar. Himmel? Schaufenster? Menschen? Alles Fehlanzeige. Kaum vorstellbar, dass Celina überhaupt lebend über die Straße kommt.
Kevin Rädle ist Auszubildender und macht gerade ein Praktikum in Baindt. Der 18-jährige, angehende Ergotherapeut sitzt auf dem Boden, lauscht den Beschreibungen seines Smartphones und ist fasziniert. „Das ist toll, wie das hier gemacht ist. Endlich kann ich verstehen, was und wie die Kinder sehen.“Celina und Esma kennt er noch nicht, er ist ganz neu hier, aber „dass sie lustig und fröhlich sind, hört man ja.“
„Uns war es auch wichtig, die Kinder und Jugendlichen als Individuen darzustellen“, sagt der Schulleiter. Weshalb ganz behutsam vorgegangen wurde. Die Schüler und Schülerinnen durften viel über sich erzählen, Lebensträume und Lieblingsbeschäftigungen standen dabei im Mittelpunkt. „So etwas geht nur mit viel Vertrauen“, weiß Adrian.
Die Ausstellung berührt und es verwundert nicht, wenn der Schulleiter erzählt, dass bereits beim Probelauf Tränen geflossen sind, etwa bei Eltern, die mithilfe der VR-Brille zum ersten Mal die Sehbehinderung ihres Kindes nachvollziehen konnten – das die Welt mit ganz anderen Augen sieht.