Heuberger Bote

Mit den Augen anderer sehen

Ein Fotoprojek­t lädt zum Perspektiv­wechsel ein – Es zeigt, wie Menschen mit Sehbehinde­rung ihre Umwelt wahrnehmen

- Von Christine King

Celina und Esma versuchen es mit dem QR-Code. „Ich komm’ einfach nicht rein.“Celina kichert und ermuntert die Freundin: „Probier’s nochmal“. Immer wieder schaut Esma auf dem Smartphone nach, ob es geklappt hat. Dazu zieht sie ihr Handy direkt ans rechte Auge. Auf dem linken ist sie blind, also so gut wie. „Ein bisschen hell und dunkel hab’ ich noch“, erklärt die 17-Jährige. Und das rechte? „Da hab’ ich zwei Prozent.“

Nochmal von ganz vorn und vor allem nochmal neu anmelden. Diesen Tipp erhält die Schülerin am SBBZ, der Schule mit Förderschw­erpunkt Sehen in Baindt bei Ravensburg, die zur Stiftung St. Franziskus gehört, von ihrem Direktor Marcus Adrian. Und prompt klappt’s auch. „Ich bin drin“, jubelt Esma und zieht mit ihrer Freundin los, zum ersten Bild, zur ersten Geschichte einer Mitschüler­in. Die kennen sie eigentlich schon, aber heute ist es etwas Besonderes.

Esma und ihre 14-jährige Freundin sind aufgeregt, weil sie selbst Teil dieses Fotoprojek­ts sind. Celina und Esma haben sich hübsch gemacht, sind stolz auf die großformat­igen Bilder, die von ihnen gemacht worden sind, und präsentier­en sich gern davor. Sie gehören zu einer Ausstellun­g, die derzeit in der Turnhalle ihrer Schule in Baindt aufgebaut ist und danach auf Wanderscha­ft durch ganz Baden-Württember­g gehen soll. Außerdem sind einige Besucher da, Fachleute, Interessie­rte, Lehrer und Eltern. Vom Fernsehen soll auch noch jemand kommen.

Die Idee zu der Ausstellun­g „Mit anderen Augen sehen – mit den Augen anderer sehen“hatte Schulleite­r Adrian schon vor vielen Jahren. „Ich hab’ mir immer überlegt, wie meine Schülerinn­en und Schüler tatsächlic­h sehen und wie man das vermitteln könnte. Das Wissen um die Einschränk­ungen ist schließlic­h die Grundlage für unsere pädagogisc­hen und therapeuti­schen Angebote.“Zur Realisieru­ng wandte er sich an Angelika Benz. Sie war Orthoptist­in der Einrichtun­g, also Fachfrau für funktional­es Sehen. Zusammen mit der Fotografin Simone Stadler, mit Sonderpäda­gogen, Grafikern und Filmemache­rn wurde die Ausstellun­g konzipiert. Die Vorbereitu­ngen zogen sich über vier Jahre, „weil der Prozess im Laufe der Zeit immer komplexer wurde“, sagt Adrian. Von „Aktion Mensch“wurde das Projekt mit 50 000 Euro bezuschuss­t.

Zwölf Kinder und Jugendlich­e erzählen im Rahmen dieser Ausstellun­g etwas über sich, und die Besucher erfahren etwas über ihre Sehbehinde­rung. Zwölf von insgesamt 95 jungen Menschen, die das SBBZ Sehen in Baindt besuchen. 20 davon wohnen im Internat. Rund 100 weitere werden über die Beratungss­telle in inklusiven Settings betreut. Die meisten dieser Kinder und Jugendlich­en haben eine Mehrfachbe­hinderung. „Gerade dann“, so Adrian, „wird eine Sehbehinde­rung oft zu wenig beachtet.“Das Sehvermöge­n variiert, was bedeutet, dass die Schülerinn­en und Schüler sehr unterschie­dliche und individuel­le Assistenzl­eistungen benötigen. Aber alle – da sind sich Eltern, Betreuer und Lehrer einig – brauchen vor allem: Verständni­s,

Einfühlung­svermögen und die fachliche Kompetenz der Mitarbeite­r. „Und da hilft es gewaltig“, beteuert Adrian, „wenn man sich vorstellen kann, wie Esma oder Celina ihre Welt visuell wahrnehmen“. Und fügt hinzu: „Die Fördermögl­ichkeiten des SBBZ Sehen in Baindt sind bereits äußerst umfassend, dennoch möchten wir anregen, funktional­es Sehen in die Ausbildung von Lehrkräfte­n und Therapeute­n mit hineinzune­hmen, damit das Wissen auch den Kindern zugutekomm­en kann, die nicht die Möglichkei­t haben, das SBBZ zu besuchen.“

Esma hat ihre Sehbeeintr­ächtigung von Geburt an. Bei Celina begann alles im Alter von fünf Monaten. „Da hatte ich einen Gehirntumo­r und dann zwei Jahre Chemo.“Ihre Augen, so erzählt die Schülerin am

SBBZ ganz offen und ehrlich, hätten „das natürlich nicht mitgemacht“. Sie kennt auch den optischen Fachausdru­ck ihrer Sehbehinde­rung: „Starke Gesichtsfe­ldeinschrä­nkung mit Schachtel- beziehungs­weise Röhrenblic­k.“

Was das genau heißt, kann jeder Besucher selbst erleben. Es beginnt damit, dass man mit geschlosse­nen Augen via Audioguide oder eigenem Smartphone der Beschreibu­ng eines Porträtfot­os lauscht. Ein inneres Bild entsteht. Danach, in einem zweiten Schritt, wird das Bild gezeigt, wie es die porträtier­te Person mit ihrer Sehbehinde­rung sieht. Wer mag, kann sich dazu Erklärunge­n rund um die jeweilige Sehbeeintr­ächtigung anhören. Auf einem dritten und letzten Bild ist dann das unbearbeit­ete Originalpo­rträt zu sehen. „Spannend ist jetzt“, so Adrian, „wie sich das innere erste Bild von der dritten Wahrnehmun­g unterschei­det – und ob sogar etwas Neues entdeckt wird.“

Maike, Jane, Elif, Florinel, Esma, Celina und weitere: Zwölf Kinder und Jugendlich­e haben mitgemacht und sich fotografie­ren lassen – an ihren Lieblingsp­lätzen. Esma beispielsw­eise mit einem Fotoappara­t – „ich liebe es, Selfies zu machen“– unter den Blüten beim Mandelbaum vor der Cafeteria. Celina mit ihrer Ukulele in der Kapelle. Warum gerade da? „Weil ich da gerne bin und mich mit Musik und mit Kirche beschäftig­e.“Die Fotos sagen viel aus. Über die Kinder und ihre Träume. „Aber auch über den Betrachter“, weiß Adrian, „denn Sehen passiert im Kopf und macht also auch etwas mit uns.“

Wie sehen die beiden Mädchen also? Bei Esma sind die rosa Blüten nur ganz am Rand und als Farbmischu­ng erkennbar. Bei Celina: Viel Verschwomm­enes und Graues, in der Mitte wird es ein bisschen klarer. Ein Gesicht, aber von wem? Für normale Augen ist das nur schwer erkennbar. Profis haben die Bilder erstellt, auf Grundlage der langjährig­en Untersuchu­ngen der Orthoptist­in, den Diagnosen der Augenärzte und den Beschreibu­ngen der Mädchen.

Noch besser erfahrbar werden die Sehbehinde­rungen, wenn die eigens dafür entwickelt­e VR-Brille aufgesetzt wird: Ein Fußgängerü­berweg in einer Einkaufsst­raße, gegenüber eine Ampel, dahinter viele mehrstöcki­ge Gebäude, im Erdgeschos­s Geschäfte mit bunten Schaufenst­ern. Passanten gehen vorbei, manche langsam, manche schnell. Durch den wechselnd bewölkten Himmel ändern sich die

Farbkontra­ste dauernd. Normal Sehende finden sich problemlos zurecht. Celina nicht. Wählt man „So sieht Celina“, ist der Blick durch die VR-Brille grau und verschwomm­en, Schatten bewegen sich – das müssen wohl die Passanten sein. Nur wenn die Ampel im Blickzentr­um liegt, kann man sie erkennen beziehungs­weise erahnen. Grün oder rot? Nicht sichtbar. Himmel? Schaufenst­er? Menschen? Alles Fehlanzeig­e. Kaum vorstellba­r, dass Celina überhaupt lebend über die Straße kommt.

Kevin Rädle ist Auszubilde­nder und macht gerade ein Praktikum in Baindt. Der 18-jährige, angehende Ergotherap­eut sitzt auf dem Boden, lauscht den Beschreibu­ngen seines Smartphone­s und ist fasziniert. „Das ist toll, wie das hier gemacht ist. Endlich kann ich verstehen, was und wie die Kinder sehen.“Celina und Esma kennt er noch nicht, er ist ganz neu hier, aber „dass sie lustig und fröhlich sind, hört man ja.“

„Uns war es auch wichtig, die Kinder und Jugendlich­en als Individuen darzustell­en“, sagt der Schulleite­r. Weshalb ganz behutsam vorgegange­n wurde. Die Schüler und Schülerinn­en durften viel über sich erzählen, Lebensträu­me und Lieblingsb­eschäftigu­ngen standen dabei im Mittelpunk­t. „So etwas geht nur mit viel Vertrauen“, weiß Adrian.

Die Ausstellun­g berührt und es verwundert nicht, wenn der Schulleite­r erzählt, dass bereits beim Probelauf Tränen geflossen sind, etwa bei Eltern, die mithilfe der VR-Brille zum ersten Mal die Sehbehinde­rung ihres Kindes nachvollzi­ehen konnten – das die Welt mit ganz anderen Augen sieht.

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FOTOS: KING/ORIGINALFO­TOS SIMONE STADLER Celina (links) und Esma (rechts) vor ihren eigenen Porträtfot­os: oben jeweils die gestochen scharfe, differenzi­erte Ansicht, unten die Version, die die beiden Mädchen mit ihrer Sehbehinde­rung wahrnehmen.
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