Entsetzen über neuen Antisemitismus
Warnung vor Holocaust-Verharmlosung bei Demos – Gedenkstunde im Bundestag
(dpa/ KNA) - In ganz Europa ist am Holocaust-Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht worden. Zudem wurde vor neuem Antisemitismus gewarnt. Im Europäischen Parlament in Brüssel mahnte am Donnerstag die Schoah-Überlebende Margot Friedländer zu Wachsamkeit. Es gelte, gegen die „neuen Feinde der Demokratie“zusammenzustehen. Dies bedeute eine große Verantwortung für die Volksvertreter, sagte die 100 Jahre alte Berliner Jüdin. In Berlin sprach Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Gedenkstunde von einem „Tag der Scham“.
Die SPD-Politikerin betonte: „Wir gedenken der Millionen Menschen, die verfolgt, beraubt, gedemütigt, entrechtet, gequält, dem Tode preisgegeben wurden. Weil sie anders dachten, anders glaubten, anders liebten oder weil ihr Leben den Nationalsozialisten als ,unwert‘ galt.“Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) legte gemeinsam mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Mickey Levy, dem Präsidenten des israelischen Parlaments, Kränze am Holocaustmahnmal nieder. Levy sagte im Bundestag: „Die ewig ernste Mahnung des Holocaust lautet: Nie wieder. Nie wieder.“
Bei einer Unesco-Zeremonie in Paris betonte Kanzler Scholz in einer Videobotschaft die besondere Verantwortung Deutschlands: „Wir müssen Antisemitismus, Diskriminierung, Rassismus und Extremismus bekämpfen – überall und in all ihren Formen.“Besorgt äußerte er sich angesichts der Zunahme von Hetze gegen Israel. Gerade bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen habe man gesehen, wie die Erinnerung an den Holocaust bewusst verfälscht worden sei.
Auch Carmela Shamir, Israels Generalkonsulin, zeigte sich am Donnerstag bei ihrem Antrittsbesuch im baden-württembergischen Innenministerium bestürzt angesichts antisemitischer Auswüchse auf den Corona-Demonstrationen. „Wir waren schockiert, als wir die Slogans gesehen haben und die Bilder von Menschen, die den Davidstern tragen“, sagte Shamir in Stuttgart. „Das Ausmaß hat uns erschüttert.“Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden versuchen Rechtsextremisten vermehrt, die Proteste für ihre Zwecke zu vereinnahmen. So hatten sich Anti-Corona-Demonstranten immer wieder mit Davidstern und der Aufschrift „ungeimpft“gezeigt – was den Holocaust verharmlost.
- Die Linke Ricarda Lang und der Realo Omid Nouripour wollen Annalena Baerbock und Robert Habeck am Wochenende als Parteivorsitzende der Grünen ablösen. Im Gespräch erklärt der Bundestagsabgeordnete Nouripour, wie er sich gegenüber dem Machtzentrum in der Regierung behaupten will und warum das letzte Wort beim Tempolimit noch nicht gesprochen ist.
Herr Nouripour, in einem Tweet schreiben Sie, Sie bewerben sich um den schönsten Job der Welt. Was ist denn am grünen Parteivorsitz schön?
Wir sind eine lebendige Partei voller spannender Ideen. Wir sind so groß wie noch nie, haben so viele Mitglieder wie noch nie und Wahlergebnisse wie noch nie. Jetzt kommen wir in eine Verantwortung mit Aufgaben, die so groß sind wie nie zuvor. Es wäre mir eine große Freude, zusammen mit Ricarda Lang dazu beizutragen, diese Aufgaben zu bewältigen. Natürlich vorausgesetzt, wir werden gewählt.
Als die Grünen zum ersten Mal in Regierungsverantwortung waren, gaben die grünen Minister die Linien der Politik vor. Die Parteivorsitzenden standen im Schatten. Laufen Sie Gefahr, ein Schattendasein zu führen?
Es gab eine Verschiebung der Aufmerksamkeit zu Annalena Baerbock und Robert Habeck, was genau richtig war in den letzten vier Jahren. Jetzt haben wir eine ganz andere Ausgangssituation. Mehr Verantwortung bedeutet auch mehr Aufgabenteilung. Die beiden wissen sehr genau, wie wichtig die Parteispitze ist. Wir werden zwar in verschiedenen Rollen, aber einhellig miteinander agieren und für Erfolge arbeiten.
Ist es Ihre primäre Aufgabe, der Basis die Kompromisse der Regierung zu erklären?
Wir werden eine Scharnieraufgabe haben. Einerseits werden wir die Belange der Partei den Regierungsmitgliedern nahebringen. Andererseits geht es auch darum, die Mitglieder mitzunehmen und ihnen die Gründe für Kompromisse näher zu bringen. Wir haben beispielsweise kein Tempolimit in den Koalitionsvertrag bekommen, dafür werden wir aber den Kohleausstieg vorziehen. Selbstverständlich werden wir bei der nächsten Gelegenheit das Thema Tempolimit wieder auf die Tagesordnung bringen, weil wir nicht verstehen, warum Deutschland zusammen mit Somalia und Nordkorea in einem Miniclub der Tempolimit-freien Staaten sein soll.
Wann ist die nächste Gelegenheit, um das Thema wieder herauszuholen?
Spätestens bei den nächsten Koalitionsverhandlungen.
Also nicht in dieser Legislaturperiode?
Wir haben das Tempolimit in diesen Koalitionsverhandlungen hoch und runter diskutiert. Es gab dafür keine Mehrheit. Deshalb hat es sich erst mal erledigt. Wir stehen zum Koalitionsvertrag. Kompromisse, die man gemacht hat, werden eingehalten. Aber vielleicht überrascht uns die FDP bei dem Thema noch in dieser Legislaturperiode. Beim Thema EFuels hat es schon eine Veränderung der Position gegeben.
Was wiegt im Zweifel schwerer: der Ampel-Frieden oder die Zufriedenheit der Basis?
Die Parteispitze wird einen täglichen Abstimmungsprozess mit den Regierungsmitgliedern, der Parteispitze und den Fraktionschefs haben, um genau diese Balance zu halten. Natürlich wird die Partei an manchen Stellen auch die Auseinandersetzung in der Koalition suchen müssen, aber stets abgestimmt.
Die Klimabewegung macht Druck. Ist die Kritik von Fridays for Future gerechtfertigt?
Der Druck der Straße ist unser Rückenwind. Wir stehen vor einer Menschheitsaufgabe. Verbal sehen das auch alle ein. Wenn es aber konkret wird, dann sind wir als Grüne diejenigen, die da Druck machen müssen. Die Klimabewegung hilft uns dabei, auch wenn wir ihre Forderungen nicht immer eins zu eins in die Tat umsetzen können.
Zugleich sorgen sich viele Bürger vor noch strengeren Klimaschutzmaßnahmen. Wie wollen Sie den Bürgern die Sorge nehmen?
Gerade die Energiepreise zeigen, dass wir den Ausgleich suchen müssen. Dass die ersten nun wegen der Strompreise in die Grundsicherung fallen, zeigt, wie dramatisch die Situation ist. Die Antwort darauf ist aber nicht weniger Klimaschutz, sondern eine gute Sozialpolitik. Der Heizkostenzuschuss und die Abschaffung der EEG-Umlage, die die größte Energiepreisreduzierung in der Geschichte der Bundesrepublik ist, bringen wir jetzt auf den Weg. So gelingt es uns, Soziales und Klimaschutz in Einklang zu bringen.
Als Baerbock und Habeck die Geschäfte führten, gab es nach außen hin viel Einigkeit. Wird es jetzt wieder mehr Streit geben?
Wir kandidieren nicht für unsere Flügel, sondern für Bündnis 90/Die Grünen. Wir wissen, dass Doppelspitzen im Medienzeitalter darauf angewiesen sind, dass sie gemeinsam agieren. Bereits jetzt stimmen wir uns eng ab und telefonieren mindestens fünfmal am Tag miteinander – Tendenz steigend. Natürlich wird es Meinungsunterschiede geben. Das machen wir aber unter uns aus.
Die ersten Tage nach der Regierungsbildung waren durch einen Machtkonflikt zwischen Linken und Realos geprägt. Drohen alte Konflikte wieder aufzubrechen?
Es ist total normal, wenn es bei mehr Topleuten als Jobs Reibung gibt. Die gab es im Übrigen auch in den anderen Parteien, wie gerade bei der Union gesehen. Die Flügel waren nie weg, sie haben auch ihre Existenzberechtigung. Unterm Strich war das, was das Vertrauen beschädigt hat, nicht, dass es Reibung, sondern Liveticker aus den Gremien gab. Das müssen wir wieder in den Griff bekommen. Wir wissen, dass wir zusammenstehen müssen, um bei der Größe der Aufgaben zu bestehen.
Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Vorstand. Wie schon im Wahlkampf hatte man den Eindruck, dass die Bundesspitze reagiert, anstatt das Thema proaktiv zu kommunizieren. Machen die Grünen dieselben Fehler immer wieder?
Das Thema ist alt. Jetzt folgt der juristische Abschluss eines politischen Vorgangs, für den wir den Preis bezahlt haben. Wir gehen davon aus, dass die Staatsanwaltschaft ihre Arbeit macht und wir bald zu einem Ende kommen und uns auf die wesentlichen Fragen fokussieren können. Die sind Klimakrise, drohender Krieg in Europa, Pandemie und der Stresstest für unsere Demokratie.
Wie wollen Sie den Wahlkampf aufarbeiten?
Das ist eng abgestimmt mit denjenigen, die die Verantwortung dafür getragen haben. Es geht auch nicht um Schuldzuweisungen. Es geht darum, dass wir Lehren aus dem alten Wahlkampf ziehen, damit wir in vier Jahren imstande sind, in der Kanzlerkandidatur-Frage mitzumischen. Der Bundestagswahlkampf in dieser Dimension war Neuland. Die Strukturen waren nicht an das schnelle Wachstum der Partei und die Flughöhe angepasst. Jetzt wollen wir einen Anpassungs- und Veränderungsprozess in Gang setzen und ihn nach Möglichkeit bis zum Ende des Jahres abschließen.
Wird es auch 2025 wieder einen grünen Kanzlerkandidaten geben?
Das Ziel ist, dass wir es können.
Wird er aus dem Kreis der neuen Parteivorsitzenden kommen?
Es gibt Kabinettsmitglieder mit Regierungserfahrung, die eine ganz andere Natürlichkeit in dieser Frage mit sich bringen. Es wird dann entschieden, wenn es so weit ist.
Was wollen Sie nach einem Jahr als Parteivorsitzender geschafft haben?
Wir wollen im Saarland in den Landtag zurück und die Regierungsbeteiligung in Schleswig-Holstein verteidigen. Außerdem haben wir in NRW und Niedersachsen zwei Wahlen vor uns, wo wir beste Chancen haben mit sehr guten Kandidaten, wieder in die Regierung zu kommen. Nachdem das alles geschafft ist, schalten wir Ende des Jahres das letzte Atomkraftwerk ab. Das ist angesichts unserer Gründungsgeschichte und der Reibereien in der letzten Regierungsbeteiligung ein riesiger Erfolg. Es zeigt: Trotz aller Anstrengungen lohnt es sich, Verantwortung zu übernehmen. Wir können in der Regierung sehr viel erreichen.