Das Vermögen wächst ungebremst – aber längst nicht bei allen
Gute Finanzzahlen täuschen über Probleme im Kreis Tuttlingen hinweg: Ein Ausblick auf Armut und Reichtum im Jahr 2031
- Einige Millionen Euro habe er in seinem Leben schon an Steuern gezahlt, sagt Peter Franz (Name von der Redaktion geändert), ein Unternehmer aus der Region. Weil man über Geld „ja eigentlich nicht spricht“, will er sich nicht outen. Dass er als Spitzenverdiener die Hälfte seines Einkommens in die Sozialkassen spült, sei richtig. Es dürfe aber nicht mehr werden.
Warum denn nicht, fragt sich Hartz-IV-Empfängerin Martha Link (Name von der Redaktion geändert), die seit zehn Jahren keinen Cent an Sozialabgaben gezahlt hat und anonym auftreten möchte, um ihren Sohn zu schützen. Für sich selbst beansprucht sie gar nicht mehr Geld, weil „ja immer alles irgendwie funktioniert hat“. Stattdessen sollte die Politik mehr in Jugendliche und Kinder investieren.
Bei diesen beiden Menschen prallen zwei völlig verschiedene Lebensrealitäten aufeinander. Der eine so reich, dass er sich ohne zu zögern neueste Auto- und Handymodelle zulegen kann. Die andere so arm, dass sie sieben Jahre lang für einen Wohnzimmerschrank sparen musste. Wie wird es um die beiden in zehn Jahren stehen? Und was passiert mit dem Vermögen der Mitte im Kreis Tuttlingen, fernab dieser zwei Extreme? Es ist viel in Bewegung: Seien es die bevorstehenden Hartz-IV-ReforMartha men oder die Umbrüche in der Automobilindustrie und der Medizintechnikbranche, die die Region besonders prägen. Wie sich das Vermögen in den kommenden Jahren entwickeln wird, hat der Kreis aber auch selbst in der Hand.
Mal angenommen, man könnte die Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre eins zu eins auf die Zukunft übertragen: Dann müsste es den Menschen im Kreis Tuttlingen 2031 finanziell ziemlich gut gehen. Die Zahl der Arbeitslosen sank in der Vergangenheit – mit Schwankungen rund um Finanzkrise und die Flüchtlingsbewegung – stetig und erreichte kurz vor der Coronakrise einen Tiefststand von rund 900 Hartz-IVEmpfängern. Zugleich haben die Menschen immer mehr Geld angehäuft. Nach Hochrechnungen der DEKA-Bank wuchs der Geldvermögensbestand der privaten Haushalte zwischen 2010 und 2020 im Kreis auf rund 9,68 Milliarden Euro an. Das ist ein Plus von rund 80 Prozent.
Ein durchschnittlicher Kreis-Einwohner besitzt laut Statistik rund 69 000 Euro – verteilt auf Bankkonten,
Schuldverschreibungen,
Aktien oder Lebensversicherungen. Laut Prognose soll diese Summe ungeachtet der Coronakrise weiter wachsen.
Das liest sich zwar positiv. Aber die Zahlen der DEKA-Bank hinken. Zum einen, weil die Statistiker niemals genaue Kontostände kennen. Zum anderen, weil die Verteilung des Vermögens nicht berücksichtigt wird. Viel mehr ziehen Vermögende den Schnitt sogar noch nach oben.
Um zu verstehen, dass sich weder Armut noch Reichtum abschließend in Zahlen messen lassen, reicht aber auch ein Blick in die Augen von
Link, die immer wieder glasig werden, wenn sie über ihren Sohn spricht. Das Jobcenter berechnet den Hartz-IV-Satz der Mutter unter der Annahme, dass der Sohn mit seinem Ausbildungsgehalt für die Hälfte der Wohn- und Lebenshaltungskosten aufkommt. Die Mutter tut sich schwer mit dieser Rechnung. Ihr Sohn habe nur wenig Spielraum, etwas anzusparen für größere Anschaffungen. „Der Kerle muss doch wissen, wofür er morgens aufsteht“, sagt die Mutter. Sie hat das Gefühl, man nehme ihrem Sohn Geld und Freiheiten weg.
Link lebt schon seit zehn Jahren von Hartz IV. In ihren Job in der Produktion eines Automobilzulieferers kann sie auch nicht zurück: Beide Knie sind kaputt, sie kann keinen Schritt mehr gerade laufen.
Gesundheitliche Einschränkungen gehören zu den Hauptursachen, warum Menschen im Kreis Arbeitslosengeld beantragen, erklärt Joachim Schwarzfischer, der Leiter des Jobcenters Tuttlingen. „Vor allem die psychischen Erkrankungen nehmen zu. Durch den technischen Fortschritt ist es mit körperlichen Problemen sogar eher besser geworden. Nur: Wer lange körperlich hart gearbeitet hat und seinen Job irgendwann nicht weiter ausüben kann, tut sich schwerer mit einer Umschulung.“
Mit einer Vermittlung tun sich Schwarzfischer und seine Mitarbeiter ebenfalls schwer, wenn die Klienten schlecht bis gar nicht ausgebildet sind oder die Sprachkenntnisse zu gering seien. Gab es nicht gerade eine Wirtschaftskrise, hatte ein Großteil der Hartz-IV-Empfänger in den vergangenen Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung. „Das
„Früher war Armut eher ein Problem der sozialen Klasse, heute ist es eher ein Bildungsproblem.“
Stefan Selke, Soziologe an der Hochschule Furtwangen ist das große Problem“, kommentiert Schwarzfischer. In den Betrieben in der Region gebe es zu wenig Helferoder Lagertätigkeiten. Die Digitalisierung der Betriebe werde diese Entwicklung wohl nur weiter verschärfen.
Unternehmer Peter Franz kann dem nur bedingt zustimmen. In den kommenden Jahren gingen geburtenstarke Jahrgänger mit viel Erfahrung in Rente. Und schon heute herrsche ein Mangel an Arbeitskräften, schon heute seien rund 70 Prozent seiner Produktionsmitarbeiter Migranten. „Ich bin froh, dass wir diese Leute haben. Ohne Integration werden wir das nicht lösen können.“Ja, die Automatisierung koste Arbeitsplätze. Und ja, Jobs erforderten immer mehr Spezialkenntnisse. In der Region vermutet Franz aber keinen Radikalschnitt. „Hier werden vor allem physische Produkte hergestellt, kaum digitale Dienstleistungen. Da brauchen Sie immer Leute für die Verpackung oder die Kommissionierung“, ist der Unternehmer überzeugt.
Der Soziologe Stefan Selke von der Hochschule Furtwangen dagegen glaubt, dass in Zukunft eine neue Gruppe heranwächst. In der Wissenschaft ist oft von den „Überflüssigen“oder „Überzähligen“die Rede. Selke führt dazu aus: „Es gibt zunehmend Menschen, die nicht mehr in das Erwartungsspektrum von modernen Gesellschaften passen. Früher war Armut eher ein Problem der sozialen Klasse, heute ist es eher ein Bildungsproblem. Während der industriellen Revolution in den 1930erJahren gingen die Bauern zu Henry Ford ans Band. Das ist jetzt anders. Wir brauchen Wissensarbeiter. Und die treten nicht beliebig häufig auf.“
Was wird aus den Überflüssigen? Werden alle zwangsläufig Hartz-IVEmpfänger? Kommt darauf an. Das hängt zum einen davon ab, wie wir Arbeit in Zukunft organisieren. Und zum anderen, wie sich unser Sozialsystem entwickelt – und da gehen die Meinungen der Parteien weit auseinander.
Stefan Selke hatte zu Krisenbeginn fest mit einem Grundeinkommen gerechnet. Aber auch unabhängig von einer Krisenlage brauche es eine neue Form der armutsfesten Mindestsicherung, ist er überzeugt.
Das Wichtigste dabei: Man müsse den Menschen ihre Autonomie zurückgeben. Schon vor Jahren kritisierte Selke eine Gesellschaft, die es zulasse, dass Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen sozial zurückgelassen würden. Zum Beispiel, weil sie auf die Tafeln angewiesen seien. „Man traut armen Menschen nicht zu, selbst mit Geld umzugehen. Das ist Herrenmenschen-Denken, arrogant bis zynisch. Auf jeden Fall weltfremd.“
Diakonie-Geschäftsführer Jürgen Hau teilt diese Bedenken. Viele Menschen gehörten quasi zur Stammkundschaft der Tuttlinger Tafel, teils schon seit deren Gründung. Rund 300 Bestandskunden zählt die Diakonie in ihrem Tafelladen. Da habe sich über die vergangenen Jahre auch nicht viel getan.
Ebenso stabil sei die Zahl der Beratungsfälle in der Schuldnerberatung. Zwischen 60 und 80 Fälle betreue die Diakonie parallel. „Wobei das nicht den Bedarf widerspiegelt“, gibt Hau zu bedenken. Man könne schlicht nicht noch mehr Termine vergeben, sei mehr als ausgelastet.
Was Hau und seine Mitarbeiter ebenfalls beschäftigt ist die Komplexität der Probleme, mit denen die Menschen die Diakonie aufsuchen. „Heute haben sie nicht mehr nur ein einziges Problem. Es sind immer mehrere Dinge: Schulden, Probleme mit den Kindern, der Gesundheit oder der Wohnungssituation.“Vieles sei ursächlich auf das soziale Umfeld und die Familie zurückzuführen, manches auch auf Schicksalsschläge. Am wenigsten erkennt Hau aber eine persönliche Schuld in den Schieflagen
der Menschen.
Er fürchtet, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den kommenden Jahren weiter auseinandergeht – „wenn nicht gegengesteuert wird. Wenn man zuschaut, wird der soziale Friede langfristig aber gefährdet sein. Noch beobachten wir keine Jugendgruppen, die durch Wohnviertel ziehen und Autos anzünden. Aber wenn nichts passiert, könnte das in zehn Jahren so sein.“
Um gegenzusteuern, könne der Kreis mehr Geld in das Gemeinwesen und soziale Projekte stecken, etwa mehr Sozialarbeiter in Quartiere schicken. Außerdem sollte die Politik mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen, Jugendliche fördern und Regelsätze anheben, fordert Hau.
Die Vorgaben für Finanz- und Sozialpolitik kommen in erster Linie aus Berlin. Aber weil jede Region anders geprägt ist, sollten Kommunen und Kreise ruhig mutig vorangehen, schlägt Stefan Selke vor. „Ich könnte mir Pilotprojekte vorstellen zu modernen Arbeitsformen oder zu regionalen Formen des Grundeinkommens.“Dazu müsse aber gesamtgesellschaftlich diskutiert werden, wie sich die Menschen ein Leben in der Zukunft vorstellen.
Was das angeht, muss zumindest Peter Franz aus Sicht von Stefan Selke aber vermutlich noch umdenken. Denn der Unternehmer möchte an dem aktuellen System nichts ändern und sieht die Industrie als Hauptverantwortlichen für Wohlstand. Dabei trage die Kindergärtnerin oder der Supermarktkassierer gleichermaßen zum Wohlstand bei, korrigiert Selke.
Bei Martha Link dagegen beobachtet er ein anderes, system-gemachtes Problem. Die Hartz-IVEmpfängerin kann schon gar keine Wünsche mehr formulieren, sich keine andere Zukunft vorstellen. Sie plant von Tag zu Tag und keinen Tag weiter. Dabei sei sie zu diesem kurzfristigen Denken gezwungen. Die Politik dürfe das aber nicht zulassen, müsse ihre Utopiemüdigkeit ablegen und endlich die Ursachen von Armut bekämpfen. Nur mit Fantasie und breiter gesellschaftlicher Beteiligung könne es gelingen, Zukunftsperspektiven zu entwickeln und damit den Wohlstand zu sichern.
„Noch beobachten wir keine Jugendgruppen, die Autos anzünden. Aber wenn nichts passiert, könnte das in zehn Jahren so sein.“